Doch schon ein Landeshaushalt, der die Coronakrise ernst nimmt, ist ohne große politische Konflikte nicht zu haben.
In den Konflikten um die öffentlichen Finanzen bilden sich neue Kräfteverhältnisse. In den USA, in der EU – und im kleinen Berlin. Trotz Nettokreditaufnahme im Coronajahr ist ein Drittel der Investitionsvorhaben des Landes für 2022/2023 nicht gedeckt. Die neuen Schulden dienen dazu, zuvor geplante Ausgaben und – zu einem geringeren Teil – coronabedingte Mehrausgabe trotz der Einnahmeausfälle durch die Pandemie leisten zu können. Weder die sozialen und wirtschaftlichen Folgen von Corona noch die notwendigen öffentlichen Ausgaben für eine nachhaltige soziale Veränderung der Stadt sind damit erfasst.
Das vorläufige Jahresergebnis des Landes Berlin für das Coronajahr 2020 ist deutlich besser ausgefallen, als noch im Dezember bei der Vorlage der Eckpunkte für den kommenden Doppelhaushalt 2022/23 gegenüber dem Senat angekündigt. Statt einem angekündigten Defizit von 3,2 Milliarden EUR wird nunmehr ein Minus von knapp 1,5 Milliarden vermeldet. Am Ende eines unübersichtlichen Jahres waren größere Korrekturen in der Haushaltsdurchführung zu erwarten. In einer kleinen ods-Datei habe ich die Zahlen zur Berliner Finanzplanung seit dem Herbst zusammengestellt. Doch was bedeuten solche Zahlen? Es ist nötig, genauer hinzuschauen. Deshalb zunächst ein Blick auf die Rahmenbedingungen, den Stand der Coronakrise und die Entwicklung der Berliner Wirtschaft seit 2010. Daran anknüpfend folgt eine Schilderung der Berliner Finanzplanung und ihrer vielen offenen Fragen.
Aussicht auf das Ende der Pandemie
Die Coronakrise ist nicht vorbei. Die Krankheit und die Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung haben tief in das Alltagsleben aller eingegriffen. Erst vor wenigen Tagen stabilisierte sich hierzulande – vorerst? – die Zahl der Covid19-Patienten in intensivmedizinischer Behandlung. Die Zahl der täglichen Todesfälle steigt noch immer an. Trotz der großen Flexibilität in der Umstellung der Krankenhäuser, der ansteigenden Lernkurve in der Behandlung der Krankheit und der Ressourcen des deutschen Gesundheitswesens stehen die Beschäftigten mit der zweiten Welle wieder unter immensem Druck. Es geht in allen betroffenen Bereichen nicht nur um kurzfristige Anpassungen und die Hoffnung auf medizinische Wunder oder den Erfolg einer raschen Impfkampagne. Es geht um die Konsequenzen dieser Krise für eine fest etablierte, bis vor kurzem noch scheinbar unerschütterliche gesellschaftliche Lebensweise.
Zumindest die unmittelbaren ökonomischen Folgen der Krise sind Anfang 2021 einigermaßen abzuschätzen. Die Gastronomie und Hotellerie, Teile des Einzelhandels und der gesamte Bereich der Kultur werden vom zweiten Lockdown wieder hart getroffen. Doch die Industrie zeigt sich diesmal stabil. An den realistischen Prognosen aus dem Sommer 2020 ändert sich nichts: Die massive Intervention des Bundes (und der Länder) sind nicht ohne Folgen geblieben. Auf der einen Seite die wachsende Verschuldung diskutieren – auf der andere die Effekte der stabilisierenden öffentlichen Nachfrage herunterspielen – das war und ist Schwarzmalerei. Ende 2021/Anfang 2022 wird das Vorkrisenniveau wohl wieder erreicht sein. Während die Auseinandersetzungen um die Bekämpfung der Pandemie noch nicht vorbei sind, rücken langsam die Fragen nach den Perspektiven in den Vordergrund.
Reiner Hoffmann und Robert Habeck haben das deutsche Wahljahr mit einer Kritik an der „Schuldenbremse“, mit einem Plädoyer für öffentliche Investitionen und öffentliche Kreditaufnahme eröffnet. Sie haben bei der Gelegenheit zugleich die SPD auf die Plätze verwiesen und mit der Verschiebung der Verteilungsdebatte auf die Zeit nach der Krise der CDU ein Angebot für einen freundschaftlichen Wahlkampf unterbreitetet. Ob das im Bund funktionieren wird? Nur kurz gehen Hoffmann/Habeck auf den Investitionsstau in den Kommunen ein, die Bundesländer erwähnen sie gar nicht. Dabei ist ohne die Bundesländer die nötige Ausweitung der öffentlichen Investitionen nicht vorstellbar.
Berliner Wirtschaft
Nun, der Stadtstaat Berlin ist beides, Kommune und Land zugleich. Nach Jahren der Krise und Stagnation hat Berlin seit 2010 ein kräftiges Wirtschaftswachstum gezeigt. Das Wachstum kam vor allem aus den Dienstleistungsbereichen und – allerdings von einem niedrigen Ausgangsniveau – dem Baugewerbe. Im Jahr 2019 betrug das Bruttoinlandsprodukt Berlins 153 Milliarden EUR. Zum Vergleich: die Einnahmen des Landeshaushalt lagen im gleichen Jahr bei knapp 30 Milliarden.
Die Erwerbstätigkeit nahm deutlich zu. Die Arbeitslosigkeit ging zurück und lag 2017 erstmals wieder unter dem Niveau des Jahres 1991.
Mit 29 Prozent der Erwerbstätigen und 26 Prozent der Bruttowertschöfpfung nehmen die öffentlichen Dienstleister (Öffentliche Verwaltung, Gesundheitswesen, Bildung und Erziehung) einen zentralen Platz auf dem Berliner Arbeitsmarkt ein. In der Coronakrise wirkt sich das klar stabilisierend aus.
Die anderen Dienstleistungsbereiche entwickelten sich sehr unterschiedlich: Während zum Beispiel der Einzelhandel insgesamt noch leicht gewachsen ist, verzeichnete das Gastgewerbe den heftigen Einbruch, über den die Medien regelmäßig berichten. Im ersten Halbjahr 2020 ging in Berlin und Brandenburg das Bruttoinlandsprodukt weniger stark zurück, als im Bundesdurchschnitt. Die Schwäche des Verarbeitenden Gewerbes in Berlin verringerte die Bedeutung des Rückgangs der Industrieproduktion.
Die soziale Betroffenheit von den wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise ist sehr verschieden. Für einige heißt es Home Office – manchmal kombiniert mit Home Schooling, für andere Arbeit unter Maske, für wieder andere Kurzarbeit oder Erwerbslosigkeit. Für viele Selbständige heißt die Drohung erstmals Hartz IV, das von der SPD in völliger Verkennung der Lage als „soziales Netz“ beworben wird. Seit der Einführung von Hartz IV stellen die Solo-Selbständigen mehr als die Hälfte der Selbständigen, nicht zuletzt deshalb, weil die öffentliche Hand gezielt Leistungen outgesourct hat.
Der Rückgang der Wirtschaftsleistung zeigt sich direkt in den öffentlichen Kassen. Die Steuerschätzung vom Mai 2020 prognostizierte einen Rückgang der Steuereinnahmen von 3 Milliarden für das laufende Jahr. Die Fortschreibung der Analyse im September und November hat dieses Ergebnis etwas relativiert. Aber die Jahre wachsender Einnahmen des Landeshaushalts sind vorbei.
Viel Geld für den status quo
Über all diese Rahmenbedingungen der Landespolitik wird nicht in Senat oder Abgeordnetenhaus entschieden. Aber ohne Einfluss sind die Berliner Koalitionsparteien nicht: Kurzfristig brachten sie zur zweiten Lesung des 2. Nachtragshaushaltsgesetzes eine Änderung ein, mit der sie den Coronakreditrahmen des Landes Berlin um 1,3 auf 7,3 Milliarden Euro erhöhten. Das Abgeordnetenhaus stimmte am 10. Dezember 2020 mit der Mehrheit von SPD, Linken und Grünen zu. Die CDU enthielt sich. FDP und AfD stimmten dagegen. Das Gesetz ist veröffentlicht und in Kraft. Eine mögliche Verlängerung ist schon ins Auge gefasst: In einer Auflage beauftragte das Abgeordnetenhaus die Landesregierung, bei Bedarf einen weiteren Nachtragshaushalt vorzulegen.
Wofür soll das Geld verwendet werden? Da ist das Gesetz eindeutig: Es geht darum, den laufenden Doppelhaushalt 2020/21 trotz Steuerausfällen und einigen Mehrausgaben, die nicht vom Bund übernommen werden, umzusetzen. Verbleibende Mittel sollen in die Folgejahre übertragen werden, um auch zu Beginn der nächsten Legislatur pandemiebedingte Ausgaben abfangen zu können. Priorität hat allerdings der Vollzug des laufenden Haushaltsplanes:
„Jede Entnahme aus dieser Rücklage, soweit nicht im Haushaltsplan vorgesehen, bedarf der Zustimmung des Hauptausschusses.“
Das heißt: Erstmal bleibt der Ende 2019 beschlossene Doppelhaushalt das Maß aller Dinge und seine Prioritäten auch unter Corona-Bedingungen unangetastet. Nur wenn Ausgaben darüber hinaus gemacht werden, wird ein Teil der Parlamentarier, diejenigen, die im Berliner Haushaltsausschuss sitzen, überhaupt gefragt. Nur wenn sich alle anderen das gefallen lassen, ist dieses Vorgehen mit dem Budgetrecht des Parlaments vereinbar. (Ob der Hauptausschuss diese Aufgabe als parlamentarische Finanz-Kontroll-Kommission überhaupt erfüllen kann, woher er die nötigen Ressourcen zur Kontrolle nehmen soll, darüber schweigt das Gesetz.)
Hintergrund des Festhaltens am alten Haushaltsplan sind die unguten Erfahrungen insbesondere von SPD und LINKEN mit der Sparpolitik der Jahre 2002-2011. Die eigene Basis wurde geschädigt, die Infrastruktur und das Personal im öffentlichen Dienst auf Verschleiß gefahren. Da jetzt auch andere Bundesländer kräftig Notfallkredite aufnehmen, wollte man gar nicht erst versuchen, sich „aus der Krise zu sparen“. Die konsumtiven Ausgaben sollen nicht gekürzt, sondern auf dem aktuellen Stand gehalten werden. Auch die Berliner CDU will diesem Kurs nicht prinzipiell widersprechen.
Wie soll es weitergehen?
In seiner letzten Sitzung im Coronajahr hat der Berliner Senat am 22. Dezember die Eckwerte für den Doppelhaushalt 2022/23 „zur Kenntnis genommen“. Die Vorlage der Finanzverwaltung bildet nun die Grundlage für die Aufstellung der Haushaltspläne in den Senatsverwaltungen, Bezirken und bei den Zuwendungsempfängern. Die Pressemitteilung über dieses Ereignis war keine Topmeldung. Aber auch in großen, bewegten und verwirrenden Zeiten sollte man das Kleingedruckte nicht überlesen. Denn trotz der Einschränkungen durch den zweiten Lockdown hat die Berliner Finanzverwaltung die Termine gehalten und ihren Job gemacht. Die fiskalischen Wirkungen von Corona für das Land Berlin sind klar herausgestellt:
1) „Die Steuereinnahmen werden gegenüber den bisherigen Prognosen pro Jahr knapp 2 Mrd. Euro geringer ausfallen.“
2) Hinzu kommt die ab 2023 einsetzende jährliche Tilgungsverpflichtung in Höhe von 270 Mio. Euro für die Notfall-Kredite. (Hier ist schon die Erhöhung der Kreditaufnahme auf 7,3 Milliarden berücksichtigt.)
3) Gibt es absehbar auch in den Jahren nach 2021 Mehrausgaben, die pandemiebedingt sind.
Und der Finanzplan für den Rest der Legislatur wird skizziiert:
„Das Volumen der Rücklage wird Anfang 2021 voraussichtlich rund 4,1 Mrd. Euro betragen.
Davon könnte abzüglich des Finanzierungsbedarfs für 2021 nach aktuellem Stand rund eine Mrd. Euro insgesamt zur Deckung von pandemiebedingten Ausgaben in den Jahren 2022 und 2023 eingesetzt werden.“
Was nach Adam Riese hieß, dass im Wahljahr etwa 3,1 Mrd. Euro aus der Rücklage ausgegeben werden sollten. Tatsächlich war, ausweislich der „Ist-liste“ zum 30. November (zu finden über https://www.parlament-berlin.de/de/Das-Parlament/Ausschuesse/Hauptausschuss, Menüpunkt „Sonstiges“), die Rücklage bis zum 30. November noch nicht angefasst worden. (Der Kontostand in der Rücklage lag Ende 2020 aufgrund des besseren Jahresabschlusses bei fast 5,4 Milliarden.)
Geld ist also da, mehr als noch im Herbst bei der Vorlage der mittelfristigen Finanzplanung erwartet: Es winken höhere Steuereinnahmen aufgrund besserer Konjunkturaussichten. Deshalb werden auch die Aussichten für die Investitionen des Landes etwas positiver eingeschätzt:
„Gelingt die Deckelung dieser Ausgabeblöcke, ist es möglich, das Investitionsvolumen zu steigern: 2022 um 100 Mio. Euro auf 2,1 Mrd. Euro und 2023 um 300 Mio. Euro auf 2,4 Mrd. Euro.“
Was fehlt?
Das klingt gut, nur: Die ganze Wahrheit hat in die Pressemitteilung nicht reingepasst. Tatsächlich besteht das sogenannte Investitionsprogramm des Landes Berlin 2020-2024 (ab S. 77 in der fortlaufenden Seitenzählung im pdf) aus zwei ganz verschiedenen Bestandteilen. Das eine ist die lange fachliche Aufzählung von Investitionsvorhaben der Ressorts und Bezirke. Das andere sind zwei Zeilen auf Seite 59 des Investitionsprogramms des Landes Berlin (137 der fortlaufenden Zählung) mit den Konten 71903 (Pauschale Minderausgaben für Bauinvestitionen) und 89389 (Anteiliger Handlungsbedarf bei sonstigen Investitionen). Dort steht, dass in den Jahren 2022 und 2023 nicht weniger als 1,3 bzw. 1,4 Milliarden Euro aus den Investionsplanungen der Ressorts gestrichen werden sollten. Mit dem verbesserten Ausblick der „Eckwerte“ vermindert sich dieser Streichungsbedarf auf 1,2 bzw. 1,1 Milliarden. Das heißt aber immer noch, dass in den ersten Jahren der nächsten Legislatur etwa ein Drittel der geplanten Investitionsvorhaben des Landes ungedeckt sind.
Und über Vollständigkeit, Prioritäten und Kostenansätze der geplanten Investitionen wäre noch einmal extra zu diskutieren. Dazu braucht es eine realistische Einschätzung der wirtschaftlichen Entwicklung Berlins und der Region, der Gewinner und der Verlierer und eine Bestandsaufnahme der sozialen und technischen Infrastruktur und eine Diskussion der ungedeckten Bedarfe. Die Investitionsplanung des Landes endlich muss durch die Ausschüsse des Abgeordnetenhauses öffentlich überprüft werden. Bisher ist schon die Schulbauoffensive des Landes als dringender Bedarf und als finanzielles Risiko erkannt.
Dagegen hat die Diskussion um die notwendigen öffentlichen Investitionen im Wohnungsbau und ihre Steuerung noch nicht ernsthaft begonnen. Nur in der Pause zwischen den zwei Coronawellen schaffte es das Thema kurz in die Presse (nd, tagesspiegel). Dabei ist klar: Das Neubauziel des Senats für die Landeswohnungsunternehmen wird bis zum Ende der Legislatur weit verfehlt: statt 30.000 werden es bis Ende 2021 nur etwa 20.000 neugebaute Wohnungen der LWU. Und auch – nein: Gerade! – in Coronazeiten ist die Wohnungsfrage eine soziale Frage. Eine Linke, die mit ihrer Regierungsbeteiligung wirbt, muss liefern. Mit dem Mietendeckel hat die Berliner Landesregierung geliefert. Allerdings muss auf die Regulierung auch die Gestaltung folgen. Ohne eine Politik zur „Entspannung auf dem Wohnungsmarkt“, insbesondere durch eine „zügige Ausweitung des Wohnungsangebots“ , kann der Mietendeckel nicht erfolgreich sein.
Doch statt die wohnungspolitischen Hausaufgaben zu machen, ergeht sich ein Teil der Linken in Träumen über eine „Enteignung“ großer Wohnungsunternehmen. Dabei wissen die Aktiven, dass eine Entschädigung in Höhe von „nur“ 8 oder 14 Milliarden EUR blanke Phantasie ist. Der vom Senat errechnete Marktwert liegt bei 36 Milliarden EUR. Bei irgendwie realistischen Entschädigungssummen – d.h. irgendwo jenseits von 18 Milliarden EUR – liefert selbst der „Entschädigungsrechner“ der Ini Mietpreise, die dem heutigen Ist-Zustand nahe kommen. Eine Entschädigung unterhalb der Finanzverpflichtungen der Unternehmen – etwa 23 Milliarden EUR – würde sie in die Insolvenz zwingen und wäre rechtlich kaum haltbar. Die zulässige Rebellion im Rahmen der Gesetze hat ihre Grenzen. Sicher wäre eine Stabilisierung der Miete auf dem heutigen Niveau für hunderttausende Mieter besser als nichts. Doch eine Lösung der Probleme auf dem Berliner Wohnungsmarkt ist es nicht.
Und es wäre noch zu klären, woher der Eigenkapitalanteil des Landes Berlin für eine neue große öffentliche Wohnungsgesellschaft herkommen sollte. Ohne Eigenkapital sowie Gewährträgerhaftung oder Bürgschaften können aber Extrahaushalte keine Kredite aufnehmen und keine Geschäfte führen. Damit wären wir wieder bei der Investitionsplanung des Landes.
„Zur Kenntnis genommen“.
Die Risiken in der Berliner Finanzplanung haben SPD, LINKE und Grüne sehr wohl erkannt. Ihre Senatorinnen und Senatoren wollten deshalb Ende Dezember keine politische Verantwortung für den Inhalt der „Eckwerte“ übernehmen. Der Senat hat die Vorlage der Finanzverwaltung weder „bestätigt“ noch „beschlossen“, sondern eben nur „zur Kenntnis genommen“ – und wäscht seine Hände in Unschuld. An den praktischen Konsequenzen ändert das nichts.
Bei den Grünen verwundert das Zaudern wenig. Sie haben ihre größten Erfolge aus der zweiten Reihe erzielt und wollen sich gern nach allen Seiten offen zeigen. Weitreichende Festlegungen passen da nicht ins Konzept. Die SPD ist seit Hartz IV strukturell mehrheitsunfähig, wird aber im Bund wie in Berlin – noch? – durch ihre Regierungsbeteiligungen entschädigt. Die lange Geschichte der vorsichtigen Distanzierung von Gerhard Schröder und co. ist noch lange nicht zu Ende. Und auch die LINKE redet lieber über große Umbrüche, statt sich ihnen zu stellen.
Die Corona-Krise ist ein Umbruch. Ein „Weiter so“ in der Haushaltspolitik wird dem nicht gerecht. Ein Aufschieben der Entscheidungen auf die Zeit nach den Wahlen auch nicht. Die Tilgungspläne – Schuldenbremse! – werden den finanziellen Spielraum des Landes weiter einengen. Eine Fortschreibung der alten Investitions- und Ausgabenpläne wird die knapper gewordenen finanziellen Mittel des Landes blockieren, die Bewältigung der Krisenfolgen belasten und den nötigen Neustart unmöglich machen.
Die Berliner Landesregierung und die sie tragenden Parteien sind zu einem solchen Neustart offenbar nicht bereit. Ihre Haushaltspolitik lässt alle entscheidenden Fragen außen vor und beschränkt sich auf den Versuch, den Status quo fortzuschreiben, weil in der Regierungskoalition keine Einigkeit über die nötigen Veränderungen in der Stadt besteht. Dieser Versuch wird im Frühjahr 2021 wird mit dem dritten Nachtragshaushalt und dem Entwurf für den Doppelhaushalts 2022/23 endgültig scheitern, weil dann Entscheidungen nicht mehr vertagt werden können.
Was tun? Lernen und Handeln
Wie in jedem Umbruch bündeln sich in der Coronakrise auf verwirrende Weise die verschiedensten Konflikte. Einige Erfahrungen aus dem ersten Jahr der Krise sollten aber nicht vergessen werden. Die erste Erfahrung ist, dass es Umbrüche gibt, und nicht alles so bleibt, wie es mal war. Das heißt nicht, dass jede Veränderung zu Verbesserungen führt. Aber es heißt, dass ein Festhalten an alten Gewohnheiten nicht immer hilft: Manchmal ja, manchmal nein. Ein kritisches Verhalten zum eigenen Alltag ist nicht die schlechteste Lehre aus dem ersten Jahr Corona.
Die zweite Erfahrung hat es im Frühjahr bis in die alle Massenmedien geschafft und ist durch die zweite Welle nur bestätigt worden: Nicht die Entscheidungen von Wirtschaftsbossen und Chefs aller Art, sondern die tägliche Arbeit der Millionen „kleinen Leute“ hält die Gesellschaft am Leben und zusammen. Und in dieser Arbeit haben die Leute im letzten Jahre viele neue Erfahrungen machen müssen, haben sie Neues ausprobiert und gelernt. Ohne ihr Wissen geht gar nichts.
Nicht alles Neue hat funktioniert. Nicht alles geht anders, nur wenn man es versucht. Für viele Verbesserungen braucht es bessere Ausgangsbedingungen, die nicht zum Nulltarif zu haben sind. Das ist die dritte Erfahrung: Die Krise trifft alle, aber nicht alle gleichermaßen. Die „kleinen Leute“ leben in kleineren Wohnungen und haben geringere private Reserven. Nicht alle können ins Home Office, das auch seine Tücken hat. Reale Veränderungen sind nötig. Welche Ressourcen sind vorhanden? Wie können neue Möglichkeiten geschaffen werden? Es geht jetzt darum, endlich eine menschenfreundliche Infrastruktur zu schaffen: Eine soziale und eine technische Infrastruktur, die den Herausforderungen der aktuellen Krisen dauerhaft gewachsen ist und Entwicklungsmöglichkeiten für alle öffnet. Das wird nur klappen, wenn viele der „kleinen Leute“ sich politisch aufraffen.
In den sechziger Jahren schrieb der Politikwissenschaftler Karl W. Deutsch: „Macht hat in einem gewissen Sinne derjenige, der es sich leisten kann, nichts lernen zu müssen.“ Er brachte damit ein wichtiges Argument für die Begrenzung von Macht und gegen autoritäre Modelle aller Art auf den Punkt: Leute, die zu viel Macht haben, müssen nichts lernen. Bis irgendwann der Punkt kommt, an dem ihre Macht zum Machterhalt nicht mehr ausreicht – aber bis dahin geht meist viel kaputt. Er hat damit aber auch den kleinen Leuten eine Mahnung mitgegeben: So anstrengend Aufklärung, Lernen und Wissenschaft auch sind – und sie sind anstrengend – sie können es sich gar nicht leisten, darauf zu verzichten. Solange sie versuchen, sich nur um die eigene kleine Welt zu kümmern, wird die große Welt mit ihren Umbrüchen alle Lebenspläne durcheinanderwirbeln.
Wie soll Berlin in 20 Jahren aussehen? Wo und wie werden wir leben und arbeiten? Welche Bedingungen muss die öffentliche Hand dafür schaffen? Was ist wichtig? Was ist wünschenswert? Was ist überflüssig? Es geht um eine harte und sachliche öffentliche Debatte. Demokratische Entscheidungen brauchen Zeit. Deshalb müssen sie heute vorbereitet werden.
Nicht-demokratische Entscheidungen
Neben den politischen Konflikten um die öffentlichen Finanzen gibt es allerdings noch eine andere Form der laufenden Abstimmung über die Staatsfinanzierung: Auf den Finanzmärkten. Wie das funktioniert, ist hier am Beispiel des US-Haushaltsstreits 2013 diskutiert. Aktuell begrüßen die US-Finanzmärkte haben die Aussicht auf die Regierung Biden an den Aktienmärkten mit steigenden Kursen: Neue, umfangreiche Hilfsprogramme für die Wirtschaft finden die Anleger gut. Dagegen steigen die Zinsen für die US-Staatsschulden. Für die deutschen Bundesländer hat die Ratingagentur Moodys gerade die Aussicht auf „negativ“ geändert. Ihre Kreditaufnahme wird nicht so billig bleiben, wie sie zur Zeit noch ist.
Um so dringender ist eine Debatte über die Zukunft der öffentlichen Haushalte. Politische Mobilisierung ohne Überzeugung in der Sache kann kurzfristig funktionieren. Für nachhaltige Veränderungen reicht es nicht.