Widerschein des Feuers

Wissenschaft und Revolution bei Thomas Kuczynski (1944-2023)

„Auf jedem Menschen liegt der Widerschein der Geschichte.
Die einen trifft er mit glühendem, sengendem Licht, beim
anderen nimmt man ihn kaum wahr, so schwach ist er,
getroffen aber werden alle davon.“ Juri Trifonow

Ein Jahr nach dem wirtschaftlichen Ende der DDR durch die Einführung der DM trat in Berlin Anfang Juli 1991 die 2. DADA-Konferenz zusammen, ein Treffen von Aktiven der PDS, die am betrüblichen Zustand ihrer Partei etwas ändern wollten (DADA = Dresdener Alternatives Diskussionsangebot). Der Wirtschaftshistoriker Thomas Kuczynski forderte in seiner Eröffnung Selbstkritik ein: „Wir hatten uns eingebildet, daß mit der totalen Niederlage des Realsozialismus, mit der Entmachtung der früheren Partei- und Staatsführung, mit dem Austritt der Karrieristen aus einer nicht mehr karrierefördernden Partei nicht nur die Grundlagen geschaffen seien für den Aufbau einer neuen, modernen sozialistischen Partei, sondern diese Partei selbst schon vorhanden sei, verbesserungswürdig natürlich, mit historischen Überresten kämpfend, um Anerkennung in der noch nicht begreifenden Bevölkerung ringend usw. – wir kennen diese Formeln aus der SED-Agitation und Propaganda, lehnen sie als solche alten Formeln schärfstens ab und gebrauchen sie doch selber, im neuen Gewand. Wir hatten nicht begriffen, daß SED-Mitglieder, die heute der PDS angehören, deshalb ihr Verhalten nicht geändert haben müssen.“ (TK 1991b, 3f)

Und er zog die wenig beruhigende Konsequenz: „Wir müssen uns völlig darüber im klaren sein, daß wir zwischen allen Stühlen sind – übrigens der einzige Ort, wo wir sicher stehen können, einen Standpunkt entwickeln können, denn auf Stühlen könnten wir zwar bequem sitzen, aber nur sehr unsicher stehen und schon gar kein Stehvermögen entwickeln. Auf unser Stehvermögen wird es aber sehr ankommen, wenn wir den Erneuerungsprozeß entschieden vorantreiben wollen. Zwei Stühle sind es vor allem, die verführerisch zum Sitzen einladen, das eine ist der sozialreformerische, dessen Besetzer im Zeichen zivilisatorischer Errungenschaften die bloße Verbesserung ‚kapitaldominierter Gesellschaftsverhältnisse‘ wünschen, das andere ist der traditionalistische, dessen Besetzer im Zeichen von DDR- und SED-Nostalgie eine verbesserte Neuauflage des untergegangenen Realsozialismus wünschen. Beiden gemeinsam ist eine ungeheure Staatsgläubigkeit, weshalb es für manche so einfach gewesen ist, nahezu bruchlos von poststalinistischen zu sozialreformistischen Verhaltensweisen überzugehen. Ungeachtet der Tatsache, daß es sich hierbei um grob vereinfachende Etikettierungen handelt, ergibt sich meines Erachtens aus dieser Konstellation auch der inhaltliche Zusammenhang zwischen den beiden im Haupttitel unseres Strömungspapiers genannten Aufgaben, der untrennbare Zusammenhang zwischen radikaler Aufarbeitung der Geschichte und konsequenter Opposition.“ (TK 1991b, 4f) Die Kritik an verschiedenen Formen der Nostalgie unterstrich er mit der Bemerkung: „Im Übrigen muß ich (mit Joan Robinson) ganz offen sagen: Es ist töricht, einer Vergangenheit nachzutrauern, die die Gegenwart hervorgebracht hat, und ich will hinzufügen: Insbesondere, wenn es sich um eine Gegenwart wir die unsere handelt.“ (ebenda, 6)

Das war wenige Wochen vor dem Augustputsch 1991 in Moskau. Die Gorbatschowsche Reformierung der Sowjetunion war gescheitert, die große KPdSU zerfiel nicht weniger ruhmlos, als die kleine SED. Angesichts dieses Epochenumbruchs gingen die Teilnehmer*innen der DADA-Konferenz ganz verschiedene politische Wege, manche fanden auch irgendwann passende Stühle oder Sessel. Thomas trat 1992 aus der PDS aus – erst nachdem er seine Verantwortung als Direktor des Instituts für Wirtschaftsgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR bis zum letzten Tag erfüllt hatte. Das Auflösungsverdikt des Wissenschaftsrates für die früher auch im Westen anerkannte Einrichtung war schon beim kurzen Besuch des Instituts am 15. Oktober 1990 zu erwarten und am 17. März 1991 offiziell verkündet worden – obwohl 80% der Projekte und des Personals als weiterführungs- und förderwürdig bezeichnet wurden (WR 1992). Viele der Mitarbeiter*innen fanden einen neuen Job – der widerborstige Direktor nicht (Paycha/Rosenberger 2020, Thijs 2021). Die damit verbundenen Konfliktlagen waren auch sympathisierenden Kolleginnen und Kollegen im Westen nicht immer einfach zu vermitteln (TK 1993). Ein Neuanfang war nötig. Für diesen Neuanfang als marxistischer Privatgelehrter brachte Thomas viele Voraussetzungen mit. Sein erstes großes Projekt wurde ein Buch zum Kommunistischen Manifest: „Von der Erstausgabe zur Leseausgabe“ (TK 1995).

Wirtschaftshistoriker in der DDR

1944 im Exil in London als Kind der Wirtschaftswissenschaftler und Kommunisten Marguerite und Jürgen Kuczynski geboren, kam Thomas im Frühjahr 1947 nach Berlin. Er wuchs in einer sehr besonderen Familie auf (Green 2017). Seine Tante Ursula Beurton arbeitete für den sowjetischen Militärgeheimdienst in China mit Richard Sorge zusammen, in der Schweiz mit dem Netz von Sandor Rado, und sie führte in Großbritannien Klaus Fuchs und Melita Norwood, bevor sie Anfang 1950 in die DDR flüchtete (Macintyre 2020). Erst mit ihrem Buch „Sonjas Rapport“ gab sie 1977 einige Einblicke in diese Geschichten. Sein Vater Jürgen arbeitete seit 1930 als Wissenschaftler und Journalist für die KPD. Als er 1953 als Westemigrant und Mitarbeiter des OSS der Kriegszeit von der SED-Parteikontrollkommission vorgeladen wurde, berief er sich nicht nur auf entsprechende Parteiaufträge, sondern ebenfalls auf Geheimhaltungsverpflichtungen gegenüber den sowjetischen Freunden (Klein 2002, 191ff). Die kleine DDR war ein Ergebnis des zweiten Weltkriegs. Für die SED hieß Kommunist sein, treuer Freund der Sowjetunion zu sein. In der Familie Kuczynski und ihrem Freundeskreis wurde viel diskutiert, aber nicht alles erzählt.

Schon früh lernte Thomas gut zu unterscheiden. So studierte er Statistik und spezialisierte sich in Wirtschaftsgeschichte bei Hans Mottek. Andere Interessen – die Geschichte der Arbeiterbewegung und des Sozialismus, die politische Ökonomie – verfolgte er persönlich weiter. Er hielt nicht alle der offiziell festgelegten Prüfungsantworten für falsch: Etwa die fünf Merkmale des Imperialismus, die Feststellung einer „allgemeinen Krise des Kapitalismus“ seit dem Sieg der Oktoberrevolution, oder dass in der Sowjetunion mit dem gesetzmäßigen Sieg des Sozialismus selbstverständlich auch das Nationalitätenproblem gelöst sei. Die Notwendigkeit der Berliner Mauer stellte er – wie damals auch Wolf Biermann – nicht in Frage. Er wusste aber auch, dass viele offene Probleme offizieller Weise weder erforscht werden sollten noch konnten. Das Tauwetter ging zu Ende. Juri Trifonow schrieb in „Widerschein des Feuers“ über die revolutionären Bolschewiki und ihre Vernichtung unter Stalin: „der Grundgedanke dieses Buches ist, die Wahrheit zu schreiben, wie grausam und absonderlich sie auch sein mag. Die Wahrheit aber wird von Nutzen sein – irgendwann …“ (Trifonow 1983, 47f). Seit März 1965 lief an der Volksbühne in Ostberlin (bis 1981) die legendäre Aufführung von Jewgeni Schwarz „Der Drache“. In der Literatur oder als Märchen auf dem Theater war Kritik an Diktaturen und ihren Helfershelfern möglich. In der Wissenschaft war es schwieriger. Ferenc Janossys Buch vom Ende der Wirtschaftswunder konnte nur im Westen erscheinen, weil darin auch ein kritischer Blick auf die Wirtschaftsgeschichte der Sowjetunion geworfen wurde.

Als entscheidende Erfahrung beschrieb Thomas das Studium des Marxschen Kapitals, das er damals begann – und nie beendete. In der wissenschaftlichen Literatur ist es nicht so anders als in der Poesie, für die Juri Tynjanow festgestellt hat: „Gewöhnlich wird angenommen, der Lehrer bereite die Aufnahme der Schüler vor. In Wirklichkeit geschieht das Gegenteil. … Die Schüler bereiten das Erscheinen des Lehrers vor.“ (Tynjanow 1982, 52) 1933 war im Rahmen der Arbeit zur ersten MEGA der Entwurf des 6. Kapitel des ersten Buches des Kapitals, „Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses“, erschienen. In diesem Text hatte Marx die Unterscheidung von formeller und reeller Subsumtion der Arbeit ausgeführt, die im veröffentlichten Kapital scheinbar nur beiläufig notiert ist. Thomas fand hier einen Angelpunkt seines Verständnisses kapitalistischer Entwicklung. Hinzu traten zwei weitere lebenslang bewunderte Vorbilder: Marguerite Kuczynskis Edition von François Quesnays Reproduktionsmodell, des Tableau économique (Quesnay 1971/76, Lampalzer 2013) – und Piero Sraffas kleines „epoch-making book“ (Maurice Dobb) Warenproduktion mittels Waren, dessen deutsche Übersetzung 1968 in Ostberlin von Gunther Kohlmey und Johannes Behr veröffentlicht wurde.

Im Rückblick schrieb Thomas 1990: „Und ich fragte mich damals insgeheim, ob nicht angesichts der Stagnation sowohl des Realsozialismus als auch der kommunistischen Bewegung in den kapitalistischen Ländern und dem seit 1973 erfolgten Eintritt in eine langfristig depressive Phase kapitalistischer Entwicklung wieder ein Neuanfang gesetzt werden muß. Der Prager Frühling und die Maiereignisse 1968 in Paris schienen mir Vorboten dafür gewesen zu sein. Vor allem die Existenz des Realsozialismus hatte diesen Neubeginn verhindert.“ (TK 1990)

Das war die große weltpolitische Perspektive. In Ostberlin bedeutete der sowjetische Einmarsch in Prag das Ende vieler Hoffnungen, Verhaftungen und Berufsverbote. Nicht zum ersten Mal wurden Wolfgang Heise und Fritz Behrens von „der Partei“ diszipliniert. Thomas politische Antwort bestand in der Konzentration auf die wissenschaftliche Forschung. Er begann nach seiner Promotion 1972 zum Ende der Weltwirtschaftskrise in Deutschland die Arbeit am Institut für Wirtschaftsgeschichte der Akademie der Wissenschaften. Nicht in den Zeitschriften der Wirtschaftswissenschaftler, der Historiker oder Philosophen, wohl aber in den Publikationen des Instituts konnte er manche Positionen veröffentlichen, die von vorsichtigeren Zeitgenossen als „strittig“ bezeichnet wurden: Denn wenn es 1933 Alternativen zu Hitler gab – warum konnte der Faschismus nicht verhindert werden? Die fortgeschrittenste europäische Produktionstechnik des XVII. Jahrhunderts war mit kapitalistischen – wie in Holland – und feudalen Verhältnissen – wie in Frankreich – vereinbar. Was bestimmte dann den Charakter einer neuen Gesellschaftsordnung? Und wie sicher war es, dass „die“ wissenschaftlich-technische Revolution die „materiell-technische Basis des Sozialismus und Kommunismus schaffen wird“ (TK 1981, 609)? Die neue Welle von Innovationen fand offensichtlich vor allem im Westen statt. Wenn aber der kapitalistische Westen nicht zusammenbrach – was sollte dann aus dem Ostblock werden?

Zu den politischen traten inhaltliche Schwierigkeiten. Wirtschaftshistoriker arbeiten mit quantitativen Daten. Es wird mehr oder weniger kompliziert verglichen und gerechnet. Alle tun es – die marxistischen Wirtschaftshistoriker aber nicht ohne schlechtes Gewissen. Denn die Mathematik beruht auf dem Ausschluss widersprüchlicher Voraussetzungen – doch die Dialektik und die Erkenntnis der wesentlichen Zusammenhänge sollte den Widerspruch einschließen. In seiner Habilschrift setzte sich Thomas ausführlich mit den diesbezüglichen Überlegungen des DDR-Philosophen Peter Ruben (1978) auseinander. Er kam zu dem Ergebnis, dass die Mathematik, philosophisch gesprochen, nur für den Schein der Bewegung zuständig sei (TK 1979, 79ff). Leider akzeptierte er in dieser Diskussion wie seine Vorgänger unreflektiert „x und nicht-x“ als Formel für den Hegelschen „Widerspruch“ (MEW 23/623) – und versuchte dann, solchen logischen Fehlern etwas abzugewinnen. Ein genauerer Blick auf das unendliche Urteil bei Kant, die Grundsätze der Wissenschaftslehre bei Fichte und die beiden Formen des unendlichen Urteils bei Hegel ermöglicht es, solche Kurzschlüsse zu vermeiden (Gerhardt 2009, 386).

Und dann die Werttheorie. In seiner Diskussion der faschistischen Rüstungswirtschaft stützte sich Thomas auf die Marxschen Reproduktionsschemata. Die realen Transaktionen erfolgen jedoch zu Preisen, deren Zusammenhang mit Wertgrößen noch zu bestimmen wäre. Auch die Produktion des relativen Mehrwerts der Marxschen Theorie besteht nicht einfach in der Einführung von Maschinen, denn die Senkung des Werts der Ware Arbeitskraft ist abhängig vom Entwicklungsstand der kapitalistischen Produktion insgesamt. Sie ist damit vermittelt durch die Konkurrenz der Kapitalisten, die zur Herausbildung einer Durchschnittsprofitrate und von Produktionspreisen führt (TK 1981, 610ff; vgl. Rita Kuczynski 1981). Ohne eine Lösung des Transformationsproblems bleibt eine Diskussion der Kapitaldynamik auf arbeitswerttheoretischer Basis esoterisch (Okishio 1963). In der Auseinandersetzung mit Sraffa entwickelte Thomas hierzu eine eigene Argumentation, die jedoch erst viel später veröffentlicht wurde (TK 2000). Die ängstliche Kontrolle gesellschaftswissenschaftlicher Debatten in der DDR war nur in einem Punkt effektiv: Sie verhinderte Klärungen und wissenschaftliche Fortschritte.

In der Analyse der „Kondratievzyklen“ (vgl. Kondratiev 1998) konnte Thomas Fortschritte erreichen und veröffentlichen. Seine Forschung zu den Langen Wellen der Konjunktur (TK 1979) überzeugte sogar seinen Vater Jürgen von deren Existenz. Thomas schlug ein Modell der Konjunkturentwicklung als aufeinanderfolgende Phasen logistischen Wachstums vor: „Scheinbar überwinden im Kapitalismus Basisinnovationen die Depression, in Wirklichkeit erzwingt die Depression die Basisinnovationen.“ (TK 1985, 107) Auf der internationalen Tagung in Weimar 1985 referierte er über ähnliche Überlegungen bei Marx und Engels (TK 1987). Im Januar 1989 explizierte er auf einer Konferenz in Brüssel einen Zusammenhang zwischen dem tendenziellen Fall der Profitrate und den großen Depressionen als Übergangsphasen der kapitalistischen Entwicklung. Der Konferenzband erschien erst 1992 (TK 1992) – bis dahin hatte sich viel geändert.

Mitten in einem Umbruch

1988 war Thomas Kuczynski Direktor des Akademie-Instituts für Wirtschaftsgeschichte geworden. Er wusste, worauf er sich einließ: Sein Vater hatte das Institut gegründet und bis 1968 geleitet. Nach Wolfgang Jonas und Helga Nussbaum folgte ihm nun sein Sohn auf diesen Posten. Es waren unruhige Zeiten. Unruhe muss nicht falsch sein. Die Veränderungen in der Sowjetunion nach der Wahl Michail Gorbatschows zum Generalsekretär der KPdSU verfolgten viele Genossinnen und Genossen der SED mit großer Hoffnung, auch Thomas. Als Ende 1988 Erich Honecker die sowjetische Zeitschrift „Sputnik“ in der DDR verbieten ließ – sie hatte über den Hitler-Stalin-Pakt berichtet –, gab es heftige interne Diskussion in der Parteigruppe des Instituts. Mehr aber nicht, denn, so Thomas damals, er wolle „nicht fünf Minuten vor 12 Harakiri machen“. Er glaubte also noch fest an eine Weiterentwicklung des Realsozialismus und die Fortsetzung seiner Institutionen. In einem Vortrag über „Reversibilität und Irreversibilität in der Entstehungsgeschichte des europäischen Kapitalismus“ hatte er im September 1987 vorgetragen, dass bis zur Industriellen Revolution die Kapitalismusentwicklung in Europa durchaus hätte umgekehrt werden können. Auf eine Frage aus dem Publikum, ob dann nicht auch die damalige Sozialismusentwicklung reversibel sei – immerhin produzierten beide Weltsysteme auf der gleichen technologischen Grundlage –, antwortete er mit einem Hinweis auf die sowjetischen Atomwaffen (TK 1991a, 52f). Das war zu kurz gedacht.

Bis 1989 hatte sich Thomas aus öffentlichen politischen Kontroversen herausgehalten. An den intensiven Auseinandersetzungen der Jahre 1989 bis 1992 nahm er nicht als Beobachter teil. Er verlangte mit anderen eine Reform der Akademie der Wissenschaften der DDR und mischte sich in die Umbildung der SED zur PDS ein. Und er wollte seinen Glauben an ein mögliches glückliches Ende wenigstens der Gorbatschowschen Perestroika nicht aufgeben. Im Mai 1990 fragte er im ehemaligen Zentralorgan, dem ND: „Befindet sich die Sowjetunion auf dem Wege zum Sozialismus? Absolviert sie eine sehr schwierige Gratwanderung, keineswegs sicher vor dem Absturz in die Tiefen des Kapitalismus?“, nur um fortzusetzen: „Und wenn wir diese Fragen mit Ja beantworten, was berechtigt uns dann zu einem Nein gegenüber der eigenen Geschichte?“(TK 1990) Thomas wollte seine Fragen mit Ja beantworten. Sonst war er gar nicht gut darin, sich blauen Dunst vorzumachen. Erst der Sommer 1991 setzte diesen Hoffnungen ein Ende.

Tief geprägt hat ihn die Erfahrung der Handlungsunfähigkeit nicht nur der alten Führung, sondern der Mitgliedschaft der SED. Diese Ent-Täuschung warf ganz neue Fragen auf, denn Enttäuschungen setzen Täuschungen voraus, durch andere oder sich selbst. Wer nicht gelernt hat, eigene Standpunkte zu bilden, wird gerade unter Druck Schwierigkeiten haben, selbständig zu handeln. In der traditionellen linken Theorie wurden Widersprüche gern als „Triebkräfte der Entwicklung“ gefeiert. In der Praxis wurde Widerspruch als Gefährdung der Einheit misstrauisch beäugt oder direkt als Hilfe für den Klassenfeind denunziert. Diskussionsfreiheit erscheint dann als Luxus, den man sich nicht immer leisten kann. Einwände gelten als „fragwürdig“ in einem recht negativen Sinne. Thomas schätzte Überlegungen, die des Fragens würdig waren. Und die Erfahrung des Herbstes 1989 in der DDR zeigte: Gerade, wenn es – wie damals – um Machtfragen geht, ist die öffentliche Austragung von gesellschaftlichen Gegensätzen eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung für friedliche Konfliktlösungen. Keine Partei kann immer recht haben. Ohne Macht sind gesellschaftliche Veränderungen nicht möglich. Aber Macht ohne Kontrolle ist Mist.

Unfreiwillig Privatgelehrter

Als Erwerbsloser waren viele Projekte nicht mehr zu realisieren. Das bloße Nachdenken über Wirtschaft und Gesellschaft hat zwar den großen Vorteil, vergleichsweise billig zu sein: Es ist wohl zeitaufwendig, erfordert aber keine umfangreichen Mittel. In der Regel reichen Papier und Stift, und selbst die sind nicht immer nötig. Wenn es aber um die Darstellung der wirklichen Welt geht, um Daten und Fakten, dann wird es richtig teuer (Brody 1984, 11f). Machbar war daher weder eine schon angekündigte „Untersuchung des Zusammenbruchs des Realsozialismus aus wirtschaftshistorischer Sicht“ noch die Fortsetzung der Forschungen zu den Langen Wellen. Zu DDR-Zeiten war das Publizieren schwierig und bei manchen Themen unmöglich gewesen. Nun war das Publizieren viel einfacher, nur einige Themen waren nicht mehr zu bearbeiten.

Nach dem Projekt zum Kommunistischen Manifest begann Thomas, über eine neue Textausgabe des ersten Bandes des Kapital nachzudenken. Erst 2017 konnte er das Vorhaben abschließen. Unterwegs diskutierte er mit allen, die zuhören wollten. Seine kritische Darstellung der Rolle der Arbeiterklasse im Kapitalismus, die Anwendung der Marxschen Idee vom gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen auf Bourgeoisie und Proletariat, traf nicht bei allen Zuhörern auf Zustimmung (TK 1996). Ein kurzfristiger Honorarauftrag führte ihn 1999 zur Wirtschaftsgeschichte zurück: Sein Gutachten zu den Entschädigungsansprüchen von Zwangsarbeiter*innen in Nazideutschland während des Zweiten Weltkriegs überraschte Auftraggeber wie die Öffentlichkeit, letztere nur kurz. Nachträglich baute er den Text zu einem kleinen Buch aus (TK 2004). In Diskussionen über die deutsche und sowjetische Kriegswirtschaft oder die Wirtschaftsgeschichte der DDR bezeichnete er sich allerdings schon damals als „gewesenen Wirtschaftshistoriker“. Die Möglichkeiten eines einzelnen Außenseiters, den wissenschaftlichen Debatten zu diesen Themen zu folgen, seien begrenzt.

Um so wichtiger waren immer Kooperationsbeziehungen: Im Rahmen der Marx-Engels-Forschung zu Kolleginnen und Kollegen weltweit, dann zur Stiftung Sozialgeschichte in Bremen und vor allem der Zusammenhang um die Zeitschrift lunapark21. In Winfried Wolf hatte er einen Freund und Chefredakteur, der ihm in seiner Rubrik nie Schwierigkeiten bereitete. Jedes der 62 Hefte enthielt einen Artikel „Geschichte und Ökonomie“. Die Beiträge der ersten Jahre erschienen gesammelt (TK 2014), die Texte der letzten Jahre werden nun nur posthum erscheinen können. Im Rückblick zeigen diese Miniaturen das weite Spektrum seines Wissens und seiner Interessen.

Sein besonderes Interesse galt offenen Problemen. In der kommunistischen Tradition ist die Eigentumsfrage die „Grundfrage der Bewegung“. Die Frage war also gestellt – aber was ist die Antwort? Thomas kannte den Statistiker und Ökonomen Fritz Behrens persönlich. Behrens’ in der DDR nach 1968 illegal entwickelte Kritik am „staatsmonopolistischen Sozialismus“ wie an den technokratischen Reformern lernte er erst in den neunziger Jahren kennen. Getreu dem alten Slogan der Humanisten – ad fontes! Zu den Quellen! – erschloss er diese Kritik neu (TK 2015). Im gleichen Band stellte seine Frau, die Mathematikhistorikerin Annette Vogt, die Vorschläge des sowjetischen Mathematikers Leonid W. Kantorowitsch für eine Reform der sowjetischen Wirtschaft vor (Vogt 2015). Beide Arbeiten haben auch eine aktuelle Dimension: Wie können große, arbeitsteilige Wirtschaften anders organisiert werden?

Ein weiteres offenes Problem war die Frage nach einer Arbeitswerttheorie, die ökologische Fragen ernst nimmt: Wie ist der ökonomische Aufwand zur Reproduktion der natürlichen Umwelt der Menschheit richtig zu bestimmen (TK 1991a, TK 2018)? Was ist die Natur der Arbeit (TK 1997)? Wie ist die Beschreibung des Reproduktionsprozesses angemessen zu formulieren (TK 2020)? Nicht alle Ergebnisse unserer Diskussionen zu diesem Feld sind veröffentlicht. So galt in den siebziger Jahren das Auftauchen negativer Preise und Werte in linearen Produktionsmodellen als einer der großen Kritikpunkte an der Arbeitswerttheorie. Auch Thomas hielt lange an der Idee fest, dass der Arbeitswert als eine „Substanz“ keine negative Werte annehmen könne. Aber das Aufräumen von Umweltschäden ist sicher echte Arbeit – und doch ein gesellschaftlicher Konsumprozess, weshalb Schadstoffe aufgrund des Aufwandes für ihre Beseitigung negative Arbeitswerte haben können.

Weltrevolution? Globale Revolution?

Als die Sowjetunion 1991 von der Weltbühne abtrat beanspruchten an anderer Stelle Wissenschaftler den Revolutionsbegriff auf‘’s Neue: „The First Global Revolution“ war ihr Bericht an den Club of Rome überschrieben (Bertrand/King 1991) Nicht der Klassenkampf, sondern die Kooperation für das Überleben auf einer endlichen Erde sollte demnach der Inhalt einer Revolution im XXI. Jahrhundert werden. Der Berliner Politökonom Hans Wagner hat versucht, dies als eine überraschende Weiterführung des Marxschen Projekts zu interpretieren (Wagner 1993). Thomas Kuczynski war sich nicht so sicher. Weder, was die Unmöglichkeit von kapitalistischen Auswegen aus der Umweltkrise betrifft (TK 2014, 93-101), noch bezüglich der Verabschiedung des Klassenkampfes, trotz aller Skepsis gegenüber den realexistierenden Gewerkschaften und linken Parteien. Es war keine Koketterie und keine Revolutionsgymnastik, als er der Zeit 2018 sagte: „Ich fürchte die Revolution nicht.“ Denn auf Nachfrage konnte er eine wenig romantische Begründung für seine Haltung anführen. Er zitierte dann gern den Göttinger Physiker Georg Christoph Lichtenberg: „Ich kann freilich nicht sagen, ob es besser werden wird, wenn es anders wird; aber so viel kann ich sagen, es muß anders werden, wenn es gut werden soll.“

Literatur

Brody, Andras (1984): Slowdown. Global Economic Maladies. Beverly Hills/London/New York 1984.

Gerhardt, Sebastian (2009): An und für sich: Freiheit. Zur historischen Tendenz einer neuen Kritik der politischen Ökonomie. In: Marcel van der Linden/Karl Heinz Roth (Hg.): Über Marx hinaus. Hamburg 2009, S. 379-405.

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Janossy, Franz (1966): Das Ende der Wirtschaftswunder. Frankfurt/M. 1966.

Klein, Thomas (2002): „Für die Einheit und Reinheit der Partei“. Die innerparteilichen Kontrollorgane der SED in der Ära Ulbricht. Köln 2002. https://zeitgeschichte-digital.de/doks/frontdoor/index/index/docId/1022.

Hedeler, Wladislaw / Mario Keßler (Hg.) (2015): Reformen und Reformer im Kommunismus. Für Theodor Bergmann. Eine Würdigung. Hamburg 2015
https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/sonst_publikationen/VSA_Hedeler_Kessler_Reformen_Inhalt_RLS.pdf.

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Kuczynski, Thomas (1979): Zur Anwendbarkeit mathematischer Methoden in der Wirtschaftsgeschichtsschreibung. Methodologische Überlegungen und praktische Versuche. Berlin, Akademie der Wissenschaften der DDR, Promotion B, 1979.

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Vasko, Tibor (1987) (ed.): The Long Wave Debate. Berlin-Heidelberg-New York 1987.

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