Faktencheck: Hellas – Zwischenbilanz zur Konferenz

Für den 17./18. Oktober lädt FaktencheckHellas zu einer Diskussion über den Konflikt um Griechenland und die Flüchtlingsfrage nach Berlin: Griechenland und wir. Nach mehr als einem halben Jahr intensiver Arbeit ist es Zeit, Bilanz zu ziehen. Dabei ist klar, dass die Krise um den Platz Griechenlands in der Eurozone nicht mehr das Zentrum der der politischen Konflikte bildet. Die Flüchtlingspolitik, der Krieg in Syrien, die gewaltsame Zuspitzung der Konflikte in der Türkei – all das heißt nicht, dass die Probleme in Athen gelöst wären oder die griechische Bevölkerung keine Solidarität mehr braucht. Aber wir müssen prüfen: Was können wir erreichen, was konnten wir erreichen, was haben wir geschafft?

Die Idee einer unabhängigen und aufklärenden Zeitung zu Griechenland entstand Mitte März. Winfried Wolf kam nach dem Abschluss der Arbeit an der Ausgabe 29 von lunapark21 auf die Idee. Ohne seine Begeisterung hätte es die Zeitung nicht geben können, auch wenn für den Anfang mit den Griechenland-Artikeln der lunapark-Ausgabe viel Material vorlag. Ende März fiel die Entscheidung, das Projekt „FaktenCheck:Hellas“ mit einem Kaltstart zu beginnen. Am 4. April lag die erste Ausgabe der „jungenWelt“ bei, am 7. April begann der Vertrieb auf Rechnung, zugleich ging die Website faktencheckhellas.org an den Start. Innerhalb weniger Tage war die gesamte erste Ausgabe vergriffen, auf eine Nachauflage folgte noch im April die zweite Ausgabe. Einerseits wollten sich vor dem 1. Mai viele Gruppen mit Material eindecken, das Informationen und Positionen bot. Andererseits gab es im Herausgeberkreis die Erwartung einer sehr raschen Zuspitzung der Lage: Dass Wort vom „Graccident“ ging damals um.

Es gab manches Lob. Das größte Lob war der Absatz: Mitte Mai hatten wir bereits 87.000 Zeitungen auf Rechnung vertrieben. Das heißt: Hunderte Kolleginnen und Kollegen waren bereit, Kraft, Zeit und auch Geld für die Verbreitung der Zeitung einzusetzen. Offensichtlich hatte das Projekt mehr als nur einen Nerv getroffen. Parallel zur Vorbereitung der 3. Ausgabe begann die Arbeit an Übersetzungen: Griechisch, Englisch, Französisch. Die technischen Abläufe waren nicht ideal, aber so gut, dass wir von außen regelmäßig überschätzt worden sind.

Doch von innen war es nicht zu übersehen, dass die intensive Arbeit des relativen kleinen Teams Schattenseiten hatte. Die Überarbeitung des Teams war schon im Mai greifbar. Das Projekt war daher de facto mit der 2. Ausgabe nicht mehr offen, sondern es gab die Macher – und die Unterstützer draußen. Eine politische Diskussion bereits erkennbarer Streitfragen war in der Zeitung sicher nicht möglich. Aber auch im Kreis der Herausgeber/innen kam es dazu nicht: Weder über den Vorschlag von Karl Heinz Roth, die Reparationsfrage zum Kern eines Alternativprogramms zu machen, noch über die Frage eines Ausstiegs aus dem Euro. Der selbstauferlegte Zwang zur baldigen Produktion der nächsten Ausgabe engte die geringen Möglichkeiten zur politischen Klärung weiter ein. Die Debatten in Griechenland aber ließen sich nur zum Teil in der Zeitung abbilden. Zum einen brauchten viele Beiträge in dieser Debatte nicht nur eine sprachliche Übersetzung, sondern auch eine Erläuterung des politischen und kulturellen Hintergrundes. Zum anderen werden politische Auseinandersetzungen immer auch taktisch geführt, wichtige Dokumente waren daher nicht oder erst mit großer Verspätung zugänglich. Letzteres gilt etwa für den Grexit-Plan von Heiner Flassbeck und Costas Lapavitsas, der erst nach den Septemberwahlen veröffentlicht wurde.

Und mit der tatsächlichen Zuspitzung des Konfliktes und einer drohenden Pleite des griechischen Bankensystems drängte sich der Wunsch zur politischen Positionierung stärker hervor – auch wenn das mit dem Konzept eines Faktenchecks und mit der Breite des politischen Unterstützerkreises nicht zu vereinbaren war. Der Enthusiasmus über einen linken Wahlerfolg, der das Engagement vieler entzündet hatte, erlosch. Differenzen, über die im Aufschwung hinweggesehen wird, traten deutlich hervor. Noch war das Interesse ungebrochen. Die Ausgabe 3 erschien am 3. Juni – von ihr wurden schließlich über 43.000 Exemplare ausgeliefert. Sie lag in griechischer Übersetzung der efsyn vom 22. Juni bei.

In dieser 3. Ausgabe fand sich ein Text von mir: „Und nun wohin?“ – in dem ich die verschiedenen wirtschaftspolitischen Alternativen für Griechenland diskutierte. Inwiefern der Text etwas taugt, kann beim Nachlesen geprüft werden. Im Nachhinein wurde mir vorgeworfen, darin die Kapitulation von Syriza von Mitte Juli legitimiert zu haben. Tatsächlich waren es m.E. die lange absehbaren Kräfteverhältnisse, die Alexis Tsipras zur Einigung mit der Eurogruppe gezwungen haben.

Nicht absehbar war der Verlauf des Konfliktes, der sich mit Ankündigung des Referendums in der Nacht zum 27. Juni massiv verschärfte. In einer koordinierten Aktion erschien am 29. Juni in der efsyn eine Erklärung von deutschen Linken und Intellektuellen für das Referendum. Auch praktische Solidarität war möglich, hatten wir doch in tapferer Selbstausbeutung für die Zeitung mehr eingenommen, als Layout, Druck und Vertrieb kosteten.

Doch die Begeisterung über das erfolgreiche „Nein“ reichte keine Woche. Die 4. Ausgabe erschien einen Tag nach der Kapitulation von Syriza, am 14. Juli. Schon während der Produktion, in den Tagen zwischen Referendum und Eurogipfel, hatte sich Karl Heinz Roth aus dem Herausgeberkreis zurückgezogen. Erfolge einen – Niederlagen spalten, nicht nur, aber auch die Leserschaft von Faktencheck. Während den einen der Kragen platzte, weil insbesondere in den Beiträgen von Nikos Chilas und mir keine konsequente Verurteilung der Syriza-Mehrheit zu finden war, vermissten andere den sachlichen Faktencheck. Das hatte nicht nur etwas mit den Artikeln selbst zu tun: Die Situation, in der sie gelesen wurden, war verändert. Kurz vor dem Erscheinen der Ausgabe 5 stieg auch die SAV aus dem Projekt aus. Der kurze griechische Wahlkampf und die Spaltung von Syriza waren bis nach Berlin zu spüren – auch wenn die illusionären Hoffnungen auf die Übertragung der „Oxi“-Stimmen des Referendums auf die „Volkseinheit“ sich nicht erfüllen konnten. (In der Konkurrenz zwischen oppositioneller Volksfrontrhetorik und Volksfrontpolitik an der Regierung wird immer die Volksfrontpolitik der Regierung gewinnen.)

Mit 41.000 vertriebenen Exemplaren „verkaufte“ sich die Nummer 4 noch gut, wenngleich Sommerpause und politische Enttäuschung schon zu merken waren. Die 5. Ausgabe konnte daran nicht mehr anknüpfen. Mit Stand vom 12. Oktober sind 16.500 Zeitungen verschickt. Verglichen mit anderen Projekten ist das sicher viel. Für das Projekt Faktencheck: Hellas heißt das, dass es in der jetzigen Form nicht einfach fortgeführt werden kann. Der Rahmen des anfangs beschlossenen Selbstverständnisses ist überholt. Die Frage wäre heute, ob eine neue Basis für ein gemeinsames „Nein“ zur europäischen Austeritätspolitik möglich ist. Und welchen Platz der Griechenlandkonflikt in diesen nicht nur europäischen Auseinandersetzungen hat.

Im Rückblick zeigen sich die Vorzüge des Projektes: Mit einem eingespielten kleinen Team, politisch und finanziell unabhängig, konnte Faktencheck schnell und wenn nötig entschlossen auf neue Entwicklungen reagieren. Die Ausgaben enthielten eine Bandbreite inhaltlich, formal und politisch verschiedener Texte. Es gab keinen Fraktionszwang, auch wenn manche Leserinnen und Leser das erwartet – manche auch bevorzugt hätten. Jeder Autor/jede Autorin verantwortete seine/ihre Texte selbst. Fünf Ausgaben mit insgesamt über 200.000 Zeitungen, die von den Unterstützern finanziert wurden, das ist ein Erfolg.

Die Nachteile liegen ebenso auf der Hand. Faktencheck:Hellas war ein aufklärendes, aber kein organisierendes Projekt. Weder der Herausgeberkreis noch die Bestellenden, geschweige denn denn die Leserinnen und Leser waren in die politische Diskussion um die nächsten Nummern eingebunden. In den ersten Wochen haben wir noch versucht, durch regelmäßiges Nachfragen eine bestimmte Rückkopplung einzubauen. Selbst das haben wir nicht durchgehalten. Und mit dem Kräfteverhältnis auf europäischer Ebene hatte unser Projekt nur theoretisch zu tun. Schon jede Ausgabe einer bürgerlichen Tageszeitung hat eine höhere Auflage, als wir in fünf Monaten produzieren und vertreiben konnten.

Eine politische Debatte über tatsächliche Interventionen wäre sicher auch kompliziert geworden. Denn zu den Unterstützern gehörten verschiedene Menschen, die sich in einigen Punkten einig waren – in anderen nicht so sehr. Einige Unterstützer stehen parlamentarischer Politik oder offiziellen Parteien prinzipiell ablehnend gegenüber – andere haben sich in der Vergangenheit schon an Regierungskoalitionen beteiligt. Wer sich noch erinnert, mit welchem Nachdruck die „neue“ LINKE mit Oskar Lafontaine 2006 für eine Fortsetzung der lokalen Austeritätspolitik auf der Ebene des Landes Berlin eingetreten war, den mussten manche politischen Vorschläge des letzten Monates mindestens verwundern.

Diese Bilanz hier ist nicht „die“ Bilanz von Faktencheck:Hellas, sondern ein vorläufiger Rückblick auf die Arbeit eines halben Jahres. Die Frage ist, wie geht es weiter. Dass heißt: Wie groß ist der Bedarf für eine linke Diskussion zu Griechenland – und braucht es dazu eine gedruckte Zeitung? Eine Analyse zum Stand der Dinge habe ich in der aktuellen Ausgabe von lunapark21 vorgelegt: Selbstverwaltete Austerität. Griechenland kann die Festung Europa nicht schleifen, aber es gibt ein Loch in der Mauer. Selbstverständlich könnte für die weitere Diskussion die Website des Faktencheck-Projektes genutzt werden – dann sollten wir allerdings auch im Blog konsequent zur Mehrsprachigkeit übergehen. (Ein Großteil der Zugriffe erfolgt zur Zeit auf die englischsprachigen Seiten.) Die Beiträge der Konferenz werden wir in einem lunapark21-Extra veröffentlichen. Dort ist mehr Raum für unterschiedliche Positionen und ausführliche Analysen. Und genau darum geht es heute. Weder ist die Auseinandersetzung um Griechenland vorbei, noch kann der Kampf gegen die Austeritätspolitik in Athen gewonnen werden. Globalisierung ohne Internationalisierung des Widerstandes heißt dass die Herrschenden gewinnen.

Sebastian Gerhardt, 12. Oktober 2015, Berlin

Sieben Monate, sieben Texte:

Im Euro-Netz. Kreditfragen sind Eigentumsfragen: Die EZB, die Finanzmärkte und Griechenland, lunapark21, Heft 29, Frühjahr 2015
Privat geht vor Katastrophe. Die EZB: Beihilfe zu Kapitalflucht und Kontrolle, Faktencheck:Hellas 1
Materialismus und Außenhandel, Faktencheck:Hellas 2
Und nun wohin, Faktencheck:Hellas 3
Von Byrnes zu Merkel. Der deutsche Sonderweg in die Spitzengruppe des liberalen Imperialismus, lunapark21, Heft 30, Sommer 2015
Blühende Landschaften? Die Aussichten der griechischen Wirtschaft im Euroraum, Faktencheck:Hellas 4
Selbstverwaltete Austerität. Griechenland kann die Festung Europa nicht schleifen, aber es gibt ein Loch in der Mauer, lunapark21, Herbst 2015

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