Die DDR und die Reparationen

Rechenfehler und die politisch-psychologischen Voraussetzungen für ihre breite Akzeptanz

In seinem Beitrag zum Potsdamer Abkommen (Ein guter Pakt, jW, 21.7.2015) behauptet Gregor Schirmer: „Unterm Strich mussten die sowjetische Zone bzw. die spätere DDR rund 98 Prozent der Reparationsleistungen Deutschlands erbringen!“

Eine starke These. Das Problem mit dieser Behauptung ist nur, dass sie nicht stimmt. Erstens bezieht sie sich nur auf einen Teil der Reparationsleistungen und lässt andere Faktoren (Demontagen, Kriegszerstörungen, Besatzungskosten) außer Acht. Zum zweiten wiederholt sie einen Rechenfehler, den Rainer Karlsch vor über 20 Jahren gemacht hat. Beides ist unnötig. Anhand der von Karlsch in seinem Buch „Allein bezahlt? Die Reparationsleistungen der SBZ/DDR 1945-1953“ veröffentlichten Daten sind beide Fehler leicht zuerkennen – und zu beheben.

Es ergibt sich dann, dass bei den Lieferungen aus laufender Produktion der Anteil der SBZ/DDR an den gesamtdeutschen Lieferungen tatsächlich bei knapp 95 Prozent lag. Bei Berücksichtigung der anderen Faktoren zeigt sich, dass die 28 Prozent der deutschen Bevölkerung, die in der damaligen SBZ/DDR lebten, knapp 40 Prozent der wirtschaftlichen Kriegs- und Kriegsfolgelasten zu schultern hatte. Ist das nicht deutlich genug?

Zur Berechnung

Rainer Karlsch geht von den Schätzungen der Forschergruppe des DIW um Doris Cornelsen über den Umfang der Substanzverluste und die Belastung durch laufende Leistungen auf dem Gebiet der späteren Bundesrepublik und der DDR aus. (Allein bezahlt, S. 232/234)

Sodann berechnet er eine Belastung „Pro Kopf“, wobei er für die Westzonen eine Bevölkerung von 48,3 Millionen, für die SBZ/DDR 18,5 Millionen Einwohner zugrunde legt (Tabelle S. 236 oben). Dabei treten kleinere Rechenfehler in der Spalte DDR auf, die das Ergebnis aber nicht entscheidend beeinflussen. Entscheidend ist, dass Karlsch diese „Pro Kopf“-Angaben für West und Ost dann einfach in einer Spalte „Insg.“ zusammenzählt.

Aber die einen „Pro Kopf“ Angaben beziehen sich auf eine Bevölkerung von über 48 Millionen Menschen, die anderen auf nur 18,5 Millionen. Entsprechend müssten die Pro-Kopf-Angaben bei einer Berechnung der Belastung je Landesteil gewichtet werden. Das macht aber Rainer Karlsch nicht. Er rechnet dann eine von ihm so genannten „Gesamtbelastung“ aus, indem er die von ihm berechneten Pro-Kopf-Angaben zu seiner künstlichen „Insg.“-Angabe ins Verhältnis setzt. So gelangt er dazu, dass von den laufenden Leistungen jenseits der Besatzungskosten die DDR 98 Prozent getragen hätte.

Diese Zahl wurde aufgrund ihrer propagandistischen Wirkung von verschiedenen Autoren (u.a. Siegfried Wenzel) immer wieder zitiert – wobei der Ökonom Wenzel selbstverständlich darauf hinweist, dass sich hier nur um einen Teil der Kriegs- und Nachkriegsbelastungen handelt: Die Kriegszerstörungen, Demontagen und Besatzungskosten sind in dieser Angabe ja nicht berücksichtigt.

Tatsächlich ist der Umweg über die Pro-Kopf-Angaben überflüssig, wenn es darum geht, die Belastungen nach West und Ost zu sortieren. Nach dem von Rainer Karlsch akzeptierten Daten (absolute Angaben in Milliarden RM, Preisbasis 1944) haben wir folgendes Bild:

1) Substanzverluste:

S. 232

BRD

DDR

Gesamt

Substanzverlust absolut

Anteil BRD

Anteil DDR

Krieg

40,5

12,7

53,2

76,13%

23,87%

Beute

0,2

1

1,2

16,67%

83,33%

Demontage

2,7

6,1

8,8

30,68%

69,32%

Gesamt

43,4

19,8

63,2

68,67%

31,33%

Zum Vergleich:

Volksvermögen (geschätzt)

270,2

107

377,2

71,63%

28,37%

Im Ergebnis lag die Belastung der SBZ/DDR etwas über ihrem Anteil am geschätzten Kapitalstock, da zwar die Kriegszerstörungen deutlich unter denen in den Westzonen lagen, dafür aber Beutekommandos und Demontagen weiter gingen, als im Westen.

2) laufende Belastung durch Lieferungen und Besatzungskosten

S. 234

BRD

DDR

Gesamt

Anteil BRD

Anteil DDR

Besatzungskosten

33,3

12

45,3

73,51%

26,49%

andere Lieferungen

1,12

19,7

20,82

5,38%

94,62%

Gesamt

34,42

31,7

66,12

52,06%

47,94%

Nach dieser richtigen Rechnung entfallen auf die SBZ/DDR in der Rubrik „andere Lieferungen“ immer noch fast 95 Prozent der Lieferungen aus Nachkriegsdeutschland – vor allem deshalb, weil die Westalliierten aus verschiedenen Gründen auf Lieferungen aus der laufenden Produktion verzichtet habe. Dafür waren allerdings die Besatzungskosten im Westen deutlich höher.

3) Ein ungefähres Gesamtbild muss Kriegszerstörungen, Demontagen und laufende Leistungen gemeinsam berücksichtigen. Dann ergibt sich folgendes Bild:

BRD

DDR

Gesamt

Anteil BRD

Anteil DDR

1) + 2)

77,82

51,5

129,32

60,18%

39,82%

Was heißt das?

Einerseits ist es richtig, dass die Bevölkerung im Gebiet der DDR in deutlich höherem Maße für die Folgen des vom Deutschen Reich entfesselten zweiten Weltkriegs aufkommen musste. Ihr Anteil liegt mit fast 40 Prozent deutlich über dem Bevölkerungsanteil von knapp 28 Prozent oder dem Anteil am Volksvermögen von gut 28 Prozent. Andererseits ist es falsch, dass sich das Verhältnis auf 98 zu 2 beläuft.

Zwei Schlussfolgerungen

Die oben angeführten Berechnungen gehen durchweg von den Angaben aus, die auch Rainer Karlsch akzeptiert hat. Eine weitergehenden Quellenkritik, etwa zu der Frage, wie hoch waren die Investitionen im Rüstungsboom der Jahre 1939 bis 1943 wirklich? Wie waren sie verteilt? Was wissen wir über die Höhe und Verteilung der Kriegszerstörungen auf dem Gebiet des Deutschen Reiches? – alle das liegt jenseits der einfachen Überlegungen, die hier anzustellen waren.

Die Berechnungen bei Rainer Karlsch sind keine höhere Mathematik. Um so erstaunlicher ist die stabile Akzeptanz, die seine Behauptungen über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren gefunden haben. Woher kommt das?

Gerade unter Politiker und Aktivisten der SED, die aus völlig richtigen politischen und moralischen Gründen die Nachkriegsbelastungen zugunsten der Sowjetunion immer akzeptiert, aber aus weniger guten Gründen diese Belastungen in der DDR nie thematisiert hatten, war das Bedürfnis groß, zumindest einen Teil der eigenen wirtschaftlichen Niederlage in den „wirtschaftlichen Ausgangsbedingungen der DDR“ (Horst Barthel, 1979) zu sehen. Nach 1990 konnten dabei auch die Reparationen benannt werden. Selbst Übertreibungen und ganz unplausible Angaben kamen dem Bedürfnis nach Erklärung und Entlastung für die eigene Niederlage entgegen.

Doch das Scheitern der DDR ist nicht nur auf ihre Startbedingungen zurückzuführen. Unf eine tatsächliche Schlussbilanz der deutschen Kriegswirtschaft im zweiten Weltkrieg wie der Nachkriegsveränderungen und ihrer politischen Konsequenzen steht leider noch aus. Dabei ist die politische Aktualität dieser Fragen nicht zu unterschätzen. In der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift „lunapark21“ habe ich einen Versuch in dieser Richtung gemacht:

Von Byrnes zu Merkel. Der deutsche Sonderweg in die Spitzengruppe des liberalen Imperialismus“.

Jede sachliche Kritik an diesen Überlegungen kann nur helfen, wissenschaftlich wie politisch voran zu kommen.

Quellen:

Horst Barthel: Die wirtschaftlichen Ausgangsbedingungen der DDR, Berlin 1979

Rainer Karlsch: Allein bezahlt? Die Reparationsleistungen der SBZ/DDR 1945-1953. Berlin 1993

Gregor Schirmer: Ein guter Pakt. Die Verhandlungen der Siegermächte, die zum Potsdamer Abkommen führten, begannen vor 70 Jahren. Junge Welt, 21. Juli 2015

Siegfried Wenzel: Plan und Wirklichkeit. Zur DDR-Ökonomie. Dokumentation und Erinnerungen. St- Katharinen 1998

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