Von der ökonomischen Romantik zur Volksfrontillusion

Sahra Wagenknechts Verkennung des Privateigentums im modernen Kapitalismus.

Die Doppelnummer 125/126 des guten und inzwischen auch schon etwas älteren telegraph enthält neben vielen anderen interessanten und spannenden Texten auch einen Beitrag von mir, der Sahra Wagenknechts eigentümliches Buch „Freiheit statt Kapitalismus“[1] diskutiert. Der Artikel als html mit Links unten – als Druckversion hier. Hintergrund war die merkwürdige Unentschlossenheit mancher Kolleginnen und Kollegen, die sich zwar gewundert haben, daß sich ausgerechnet Frau Wagenknecht auf Ludwig Erhard beruft, aber ihr Unbehagen nicht recht sortieren konnten. Das soll hier nachgeholt werden.

Innerhalb von wenigen Tagen wurden Anfang September 2012 zwei Entscheidungen zur Kontrolle der Euro-Krise getroffen: Am 6. September beschloß die EZB den möglichen unbegrenzten Ankauf von Staatsschuldpapieren von Euroländern zu marktgängigen Preisen. Am 12. September hat das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe – unter wenig einschränkenden Auflagen – den ESM genannten europäischen Währungsfonds für zulässig erklärt. Am Willen der bürgerlichen Eliten Eurolands zur Verteidigung ihrer Währungsunion muß nach diesen Schritten nicht mehr gezweifelt werden. Man darf Zweifel an ihrer Macht haben, ihre Ziele umzusetzen. Aber auch diese Zweifel sollten von den heute bestehenden Machtverhältnissen ausgehen: Die bürgerliche Statistik weist die Eurozone als die im Jahr 2011 zweitgrößte Nationalökonomie nach den USA aus, mit immer noch großem Abstand auf den Drittplatzierten, China. Viele, nicht nur linke Analysen der letzten Jahre klangen so, als wäre der globale Kapitalismus pleite und weigere sich nur, den Gerichtsvollzieher einzulassen. Wer aber das Kapital bekämpfen will, muß auch dessen Stärken kennen.
Leider sind eher Zweifel an der Nachhaltigkeit des Widerstands gegen die Krisenpolitik der europäischen Regierungen angebracht. Kaum war die Entscheidung der EZB veröffentlicht, da reagierte die LINKEN-Abgeordnete Sahra Wagenknecht mit einer Erklärung, worin sie der EZB vorwarf, eine „Vollkaskoversicherung für den Finanzsektor“ zu stellen und „Schrottpapiere“ zu erwerben. Eine lautstarke Kritik, die gleich doppelt in die Irre führt. Denn zum einen gehört reichlich Polemik dazu, in einer Welt der Finanzkrisen ausgerechnet die Staatsschuldpapiere von Ländern der Eurozone als „Schrott“ zu bezeichnen. Da gibt es mehr und bessere Anwärter auf diesen Titel, die täglich börslich und vor allem außerbörslich gehandelt werden. Zum anderen kauft die EZB wie bereits in der Vergangenheit die Staatsschuldpapiere zum Marktpreis auf, sozusagen zum Zeitwert – was bei einer Vollkaskoversicherung für Autos nicht anders ist. Allerdings bedeutet das auch, daß die Banken auf einem Kursverlust sitzen bleiben: Wenn die Griechenlandanleihen auf dem Markt nur noch zu 60 Prozent ihres Nennwertes gehandelt werden, dann bekommen die Banken bei der EZB auch nicht mehr. Insofern ist die Anspielung auf die Autoversicherung nicht falsch. Ob aber bei den Lesern der Pressemitteilung diese richtige Einsicht in den politökonomischen Vorgang entsteht, steht auf einem anderen Blatt. Wohl eher nicht.

Gauweilers Lob
Sahra Wagenknecht ist nicht irgendjemand in der deutschen Politik. Der Einfluß der stellvertretenden Parteivorsitzende der LINKEN und 1. Stellvertretenden Vorsitzenden der Linksfraktion im Bundestag geht – anders als bei manchen anderen deutschen Politikern – deutlich über ihre offiziellen Positionen hinaus. Sie publiziert regelmäßig und hat gerade im letzten Jahr für ihr Buch „Freiheit statt Kapitalismus“ von sehr verschiedenen Seiten viel Lob erhalten. Von Georg Fülberth – „nichts Falsches und kaum Neues, aber viel Vernünftiges“(jW) – über Peter Gauweiler, von der Frankfurter Allgemeinen bis zu Beiträgen in der linken Presse zieht sich eine Allianz durch das deutsche Feuilleton. Eine kleine Volksfront, die im bunten Spektrum der Kläger gegen den Europäischen Stabilitätsmechanismus in Karlsruhe wiederzufinden ist. In gewisser Weise hat das Lob also eine reale Basis. Die Frage ist nur: Welche?
Was die bürgerliche Seite dieser Volksfront betrifft: Peter Gauweilers Begeisterung ist gut begründet. Ihm gefällt an Wagenknechts neuem Buch die Wiederaufnahme der altliberalen Kritik am „gesichtslosen“ Großkapital, das Lob des Unternehmers gegenüber dem bloßen Kapitalisten, das Lob des Marktes und – last, but not least – der alten Bundesrepublik für die „soziale Marktwirtschaft“ der Nachkriegsära. Er hat erkannt, daß die Berufung Sahra Wagenknechts auf Ludwig Erhard, den Architekten der Währungsreform von 1948, mehr ist als ein mehr oder weniger geschickter Marketingtrick. Tatsächlich wiederholt sie an verschiedenen Stellen ihres Buches ein Glaubensbekenntnis, das jedem Unternehmenspatriarchen aus der Seele gesprochen ist: „Persönliche Haftung“, so Frau Wagenknecht, ist „das Grundprinzip einer funktionierenden Wirtschaft“(10, vgl. 53f). Arbeiten kann schließlich jeder, aber wer trägt die Verantwortung?
Hinter Sahra Wagenknechts Berufung auf die Ordoliberalen steckt keine Marketingidee, sondern eine Theorie: Die gutbürgerliche Theorie vom Privateigentum als dem Ergebnis persönlicher Leistung, gegen das als solches nichts einzuwenden sei. Im Gegenteil: „Persönliches Eigentum sichert kurze Entscheidungswege und klare Machtverhältnisse.“(371) Ihre Kritik setzt überall da ein, wo der Zusammenhang zwischen persönlicher Leistung und Eigentum für sie nicht mehr gegeben ist: Wenn Eigentum auf Erbschaft beruht oder wirtschaftlicher Erfolg auf Macht und Monopolen. Und weil sie weiß, daß der größte Teil der Arbeit heute in Unternehmen geleistet wird, die etwas größer sind als Start-Ups, will sie das Eigentum in Großbetrieben durch Wirtschaftsdemokratie gebändigt und öffentlich reguliert sehen. Schließlich soll auf dem Wege des Erbrechts die „Ansammlung von Riesenvermögen in den Händen einzelner“ verhindert werden. Bei Vermögenswerten über eine Million Euro hinaus sollte die Erbschaftssteuer 100 Prozent betragen.
Solche Konsequenz gefällt Peter Gauweiler nicht mehr: „Damit wären alle deutschen Familienunternehmen – die Hälfte aller börsennotierten Unternehmen in Deutschland sind Familienunternehmen – innerhalb einer Generation enteignet.“ Und im folgenden klagt der CSU-Politiker über die Auflösung der „Generationenkette“ und der mit ihr verbundenen „regionalen und personalen Verantwortung“. Den Glauben an diese Märchen teilt Sahra Wagenknecht nicht.

Ideologie und Realität
Was sie aber teilt – oder zu teilen vorgibt – ist zum Ersten der Glaube an die Gestaltung der Gesellschaft durch rechtliche Normen. Old Marx hatte seinerzeit die Vorstellung einer Enteignung des Kapitals auf dem Wege der Erbschaftssteuer recht ungnädig abgefertigt:

„Das Recht der Erbschaft ist nur insofern von sozialer Wichtigkeit, als es dem Erben die Macht, welche der Verstorbene während seiner Lebenszeit ausübte, hinterläßt, nämlich die Macht, vermittelst seines Eigentums die Früchte fremder Arbeit auf sich zu übertragen, denn das Land gibt dem lebenden Eigentümer die Macht, unter dem Titel von Grundrente die Früchte der Arbeit anderer auf sich zu übertragen, ohne einen Gleichwert zu geben; das Kapital gibt ihm die Macht, dasselbe zu tun unter dem Titel von Zins und Profit; das Eigentum in Staatspapieren gibt ihm die Macht, ohne selbst zu arbeiten, von den Früchten der Arbeit anderer leben zu können usw.
Die Erbschaft erzeugt nicht diese Macht der Übertragung der Früchte der Arbeit des einen in die Tasche des andern, sie bezieht sich nur auf den Wechsel der Personen, welche jene Macht ausüben.
Wie jede andere bürgerliche Gesetzgebung sind die Erbschaftsgesetze nicht die Ursache, sondern die Wirkung, die juristische Folge der bestehenden ökonomischen Organisation der Gesellschaft, die auf das Privateigentum in den Mitteln der Produktion begründet ist, d.h. Land, Rohmaterial, Maschinen usw.“ (http://www.mlwerke.de/me/me16/me16_367.htm)

Sarah Wagenknecht schlägt einen juristischen Weg vor, den Kapitalisten ihr Eigentum abspenstig zu machen. Aber die Besitzbürger werden schwerlich erschrocken ihr Eigentum fahren lassen, nur weil eine ideologische Rechtfertigung ihrer Vermögen („eigene Arbeit“) mit der Vererbung großen Besitzes schwer in Übereinstimmung zu bringen ist. Wahrscheinlicher ist wohl, daß sie sich nach anderen Rechtfertigungen umschauen. Die Frage, warum ein Chef zu seinen Lebzeiten „die Früchte fremder Arbeit auf sich übertragen“ darf, wird von Sahra Wagenknecht gar nicht aufgeworfen. Es wäre die Frage wo heute der volkswirtschaftliche „Kuchen“(160) herkommt, der dann mit vielen Konflikten systematisch ungleich verteilt wird. Es wäre die Frage nach dem Charakter moderner Ausbeutung, auf die Marx soviel Mühe verwendet hat. Seine Antwort interessiert in Wagenknechts Buch nicht: Arbeiten kann schließlich jeder. Daß „Wirtschaft“ nicht nur eine Sache von Kaufen und Verkaufen, von Bossen und Börsenkursen ist, sondern in der alltäglichen Arbeit besteht – das wird auch von ihr nur als moralischer Anspruch auf Anerkennung, nicht als erklärender Zugang zur Kritik der herrschenden Zustände verstanden.
Das Ausblenden der Frage nach der gewöhnlichen Ausbeutung könnte damit zusammenhängen, daß Frau Wagenknecht zum Zweiten in ihrer Darstellung ausgesprochen albernen Robinsonaden von der Herkunft technischer und ökonomischer Innovationen aufsitzt. So richtig es ist, daß die Menschen – und das sind die Einzelnen – ihre Geschichte machen, so wenig machen sie ihre Geschichte alleine. Die wenigsten wissenschaftlichen Innovationen sind wie die algebraische Gruppentheorie einem genialen Menschen allein zu verdanken – und diese Leistung Evariste Galois wäre ohne die Bemühungen seiner Umgebung um sein Andenken und ohne die Übersetzungsarbeit Joseph Liouvilles wohl fruchtlos geblieben.[2] Die Innovationsforschung weiß einiges über die Entwicklung von technologischen Neuerungen zu berichten. Dazu gehört, daß meist mehr als eine oder einer dazu gebraucht werden. Viele Patente und Texte, über denen nur ein Name steht, haben mehr als nur einen Urheber oder eine Urheberin. Im Falle geklärter Machtverhältnisse ist zwar auch geklärt, welcher Name oben steht: Den Chefs gehört die Leistung ihrer Firma, ob es sich nun um eine neue Idee handelt oder „nur“ um ein weiteres fertiggestelltes Produkt. Aber ihnen gehört die Leistung der Firma nicht deshalb, weil sie besonders viel dazu beigetragen haben. Sondern weil sie die Chefs sind. Die Rechtfertigung des Profits durch Innovationen ist nicht weniger Schein als die Rechtfertigung des Privateigentums durch eigene Leistung. Wie die Innovationsforschung auch mitzuteilen weiß, sterben die genialen Erfinder in der Regel in bestenfalls bescheidenen Verhältnissen. Das Geld haben regelmäßig die Leute gemacht, die sich die Rechte an den Erfindungen rechtzeitig gesichert haben: So funktioniert das Privateigentum im Innovationsprozeß.
Entscheidend für die Argumentation wie für den Erfolg des Buches von Sarah Wagenknecht ist aber Drittens, daß die Frage nach der tatsächlichen Natur des Eigentums im modernen Kapitalismus gar nicht aufgeworfen wird. Sie argumentiert ausgehend von einer populären Theorie des Privateigentums, die mit der Realität nicht viel zu tun hat. Eine Ideologie wird aber nicht dadurch zur Wahrheit, daß man sie wörtlich nimmt. Schon im alten Rom war das Privateigentum selten das Ergebnis eigener Arbeit. Die Durchsetzung der Warenform des Produkts und des Privateigentums als der herrschenden Form des Reichtums „der Gesellschaften, in denen kapitalistische Produktionsweise herrscht“, war eine Geschichte der Durchsetzung von modernen Ausbeutungsverhältnissen, in denen die Herrschenden weiter von fremder Arbeit leben konnten, indem sie die Rechtsgleichheit auf dem Markt ausnutzen.
Man kann sicher einige Elemente der bürgerlichen Legitimation des Privateigentums zur moralischen Denunziation der bestehenden Verhältnisse verwenden. Historisch hat es solche Denunziationen immer wieder gegeben. Wie erfolgreich diese Strategie sein kann, zeigt das Beispiel der Agitation Ferdinand Lassalles (mit dessen marktzentrierter Ausbeutungtheorie die Argumentation Sahra Wagenknechts viele Ähnlichkeiten hat). Aber wie jeder Moralismus hat auch solche Denunziation nur eine sichere Folge: nach der Empörung folgt die Passivität. Die lautstarke Rede mag beklatscht werden, ändert aber nichts. Wirkliches politisches Handeln braucht dagegen realistische Einschätzungen der bestehenden Kräfteverhältnisse. Gerade Leute ohne Rückversicherung in Gestalt vermögender Familien, Leute, die ihren Lebensunterhalt durch den Verkauf ihrer Arbeitskraft erhalten müssen, gerade sie müssen die Risiken politischen Engagements abschätzen. Dazu brauchen sie Wissen darüber, wie diese Gesellschaft der Privateigentümer funktioniert. Es geht zum Beispiel darum, wo Verbündete und wo Gegner der eigenen Vorhaben zu suchen sind. Fehleinschätzungen in dieser Frage können schwere Folgen haben. Zwar ist Wissen noch keine Macht – dazu gehört schon etwas mehr. Aber Unwissen ist Ohnmacht.

Banker gegen Realwirtschaft?
Über Verbündete und Gegner hat Sahra Wagenknecht eigene Vorstellungen, die sie in ihrem Buch ihren Leserinnen und Lesern unterbreitet. Nicht zuletzt diese Vorstellungen sind es, die in der Reaktion besonders politisches Interesse finden. Zurecht. Immerhin geht es darum, wie ein Teil der deutschen Linken seine Verbündeten in bestimmten politischen Konflikten definiert. Immerhin geht es darum, wie die deutsche parlamentarische Linke jene Mehrheit versteht, in deren Namen sie ihre Politik macht und in deren Namen sie an der Seite Peter Gauweilers in Karlsruhe zu finden war.
Alle gehören zu dieser Mehrheit nicht. Einige sind ausgeschlossen. Den ersten großen Konflikt sieht Sahra Wagenknecht zwischen ein paar Bankern und allen anderen, auch allen anderen Unternehmern. Ihr Buch enthält eine ausführlichen Polemik gegen die wirtschaftliche Funktion privater Banken: Diese trügen nichts mehr zur Finanzierung von Investitionen und Innovationen bei, seien nur auf den eigenen Vorteil bedacht und hätten sich im moderne Bankwesen eine eigene Geldmaschine zugelegt, mit der sie nun die Realwirtschaft bedrängen.
Selbstverständlich gibt es neben Übereinstimmungen immer auch Interessenkonflikte zwischen Gläubigern und Schuldnern, insbesondere zwischen Banken und ihren Kreditnehmern. Doch auch eine Bank hat nicht nur Schuldner, sondern auch Gläubiger: Auf der Passivseite einer Bankbilanz ist die Herkunft der Mittel verzeichnet, mit denen die Bank ihre Geschäfte betreibt. Die Banken sind selbst Schuldner. Neben dem Eigenkapital, mit dem die Eigentümer – Aktionäre oder andere Gesellschafter – am Unternehmen beteiligt sind, gibt es da den großen Block der Anleger verschiedenster Art: Von den vielen Kleinsparern der Sparkasse, die wenig auf ihr Konto tragen können, über den Geldvermögensbesitzer, der persönlich oder über beauftragte Vermögensverwalter sein Portfolio managt, bis zu den großen und kleinen Unternehmen, die über die Banken ihre Geldgeschäfte abwickeln. Klar, die großen und ganz großen Geldvermögen sind in (relativ) wenigen Händen. Aber nicht nur in den Händen von Bankern. Gerade die nichtfinanziellen Unternehmen und ihre Eigentümer haben ein großes Interesse daran, daß ihre Finanzanlagen sich rentieren, statt sich in Luft auszulösen. Mag auch mancher Kapitalist als Kreditnehmer mit der Geschäftspraxis seiner Bank unzufrieden sein – als Eigentümer ist er prinzipiell mit den Bankern überhaupt solidarisch. Welchem dieser Banker er seine Anlagen anvertraut, darüber entscheidet er natürlich privat und nach Maßgabe seiner Interessen.
Daß Sahra Wagenknecht diese Solidarität mit den Bankern nicht sehen kann, liegt daran, daß sie eine ebenso verbreitete wie falsche Theorie über das moderne Geldwesen übernimmt: Moderne Banken, so diese Theorie, brauchten gar keine Mittel mehr, um Kredite zu vergeben, sondern schafften diese selbst. Sie schreibt:

„Wie entsteht heute Geld? Im Grunde aus dem Nichts, einfach dadurch, daß eine Bank einem Kunden Kredit gewährt. …. Dieser Kredit steht auf der Aktivseite der Bilanz einer Bank. Auf der Passivseite stehen unter anderem die Spareinlagen. In dem Augenblick, in dem die Bank einen Kredit vergibt, schafft sie zeitgleich eine Einlage auf der Passivseite, nämlich auf dem Girokonto des Kreditnehmers. Damit ist die Bilanz wieder ausgeglichen. Die Bank braucht also keine zusätzlichen Ersparnisse zur Kreditvergabe, sondern durch die Kreditvergabe schafft sie ‚Ersparnis‘.“(99)

Im nächsten Satz schränkt sie diese Theorie ein: „Zumindest kurzfristig.“ steht dort. Denn der Kreditkunde hat sich verschuldet, um zu bezahlen. Er macht, wann er will, Überweisungen von seinem Konto oder läßt sich Geld auszahlen – und dann muß die Bank die entsprechenden Mittel haben. Deshalb kann sich keine Bank das Geschäftsmodell leisten, daß Sahra Wagenknecht hier in gut postkeynesianischer Tradition skizziert hat. Sie wäre schnell, ganz schnell Pleite und würden bestenfalls von der Konkurrenz übernommen. Tatsächlich kann auch eine Bank nur verleihen, was sie hat. Die Kreditvergabe ist ein Tausch auf der Seite der Aktiva. Wenn sie mehr Kredit vergeben will, dann muß sie auch mehr Mittel einsetzen – Mittel, die ihr oder anderen Leuten gehören. Die Idee von der Geldmaschine im Keller der Banken, die gut für Verschwörungstheorien geeignet ist und manche ökonomische Weltuntergangsphantasie befeuert – Inflation, Inflation! – ist grober Unfug. Genauer aufgeschrieben finden sich diese Zusammenhänge hier, auch mit den Hinweisen auf die theoretische Diskussion der Anwendung auf die aktuellen Verhältnisse: Keine Revolution ist auch keine Lösung, Kapitel 2+3.
Dort und in den aktuellen Beiträgen auf dem Blog findet sich auch erläutert, warum die Zentralbanken sich so benehmen, wie sie sich z.B.in der Eurokrise benehmen: Zinsfragen sind Eigentumsfragen. Und zum bürgerlichen Eigentumsbegriff gehört neben verschiedenen Ideologien auch ein harter Kern, der es als Privateigentum ausweist und den einschlägigen Abschnitt des Bürgerlichen Gesetzbuchs eröffnet: „Der Eigentümer einer Sache kann, soweit nicht das Gesetz oder Rechte Dritter entgegenstehen, mit der Sache nach Belieben verfahren und andere von jeder Einwirkung ausschließen.“(§903) Auf die damit umrissene Freiheit verzichten Privateigentümer nur im äußersten Notfall. Solange das so ist, wird sich die Realwirtschaft wohl nicht in eine Volksfront gegen die Zocker einreihen.

David gegen Goliath?
Innerhalb der Realwirtschaft sieht Sarah Wagenknecht eine zweites Konfliktfeld: Wieder zwischen einer Mehrheit und einer kleinen asozialen Minderheit. Sie schreibt: „99,8 Prozent aller Unternehmen in Europa sind kleine und mittlere, die in der Regel andere Sorgen haben, als Konkurrenten in Südostasien aufzukaufen, auf den Finanzmärkten zu zocken oder die Eigentümer mit kreditfinanzierten Ausschüttungen zu beglücken. … Selbst eine Reihe größerer Unternehmen wirtschaftet anders als hier beschrieben.“(137) Unter letzteren – etwas größeren – Unternehmen macht sie mit dem Unternehmensberater Herbert Simon „Hidden Champions“ aus, die ihr mit hohen Investitionen, vielen Innovationen, Produktqualität und Mitarbeiterbindung sehr am Herzen liegen. Kaum einer dieser „geheimen Weltmarktführer“ fällt unter die EU-Definition der „Kleinen oder Mittleren Unternehmen“. Fast alle haben mehr als 250, einige sogar tausende von Mitarbeitern. Und die Jahresumsatzzahlen liegen mehrheitlich jenseits der Grenzen von 50 Millionen Euro. Weltweit erfolgreiche moderne Produktion oder Dienstleistung findet nicht im Kleingewerbe statt. Und in den kleinen und mittleren Unternehmen wird nicht immer besser mit den Beschäftigten umgegangen. Gerade der Arbeitsanfall gewerkschaftlicher Rechtsschutzsekretäre macht das deutlich.
Trotzdem gibt sich Sahra Wagenknecht viel Mühe, zwischen größeren und kleineren Kapitalisten die Grenze zwischen zulässigem wirtschaftlichen Erwerbsstreben und unzulässiger wirtschaftlicher Macht zu ziehen. Denn sie will die Idee verteidigen, daß „echter“ wirtschaftlicher Wettbewerb eigentlich eine tolle Sache wäre, wenn nur keine wirtschaftliche Macht daraus entstünde, die dann die Gleichheit der Marktteilnehmer beseitigt.
Die Konkurrenz der Marktwirtschaft ist jedoch kein Wettbewerb, wo, je nach Trainingsfleiß und Tagesform mal der eine und mal die andere gewinnen kann. Denn die Ergebnisse der Konkurrenz, die wirtschaftlichen Gewinne gehören den Gewinnern. Weshalb die schlichte marktwirtschaftliche Konkurrenz aus sich heraus die Polarisierung unter den Wirtschaftssubjekten verschärft, wie Georg Quaas ziemlich allgemein demonstriert hat. Das Gegenbild zu den von Sahra Wagenknecht gelobten investitionsstarken und innovationsfreudigen Unternehmen sind nicht die vermeintlich trägen Großkonzerne – bei den Industriesoziologen läßt sich nachlesen, wie diese ihre weltweite Akkumulation immer wieder neu strukturieren – sondern die Unternehmen, die mitsamt ihren Beschäftigten von der hochproduktiven Konkurrenz, etwa der tollen „Hidden Champions“ vom Markt gefegt werden.
Die reale Konkurrenz auf kapitalistischen Märkten hat sicher wenig mit den Optimierungsmodellen der neoklassischen Theorie zu tun, wo am Ende zwar nicht der Wohlstand für alle, aber das Pareto-Optimum für den Konsum sicher ist. Sarah Wagenknecht schließt daraus, daß der Wettbewerb im heutigen Kapitalismus nicht mehr richtig funktioniert. (55) Tatsächlich hat die wirkliche Konkurrenz sich noch nie nach den Vorgaben von Arrow-Debreu gerichtet. Unternehmen sind keine passiven Zuschauer der Marktbewegung. Sie verändern aktiv ihre Produkte und senken Kosten, um Marktanteile und Gewinnmargen zu verbessern. Sie berechnen ihre Preise nach ihren Kosten und Geschäftsstrategien und geben sich viel Mühe, sie am Markt durchzusetzen. Aber auch wenn der „price taker“ eine Erfindung ist: Konkurrenz findet auf den modernen Märkten trotzdem statt und ist ein Element der wenig menschenfreundlichen Dynamik des Kapitalismus.
Nur braucht es zu ihrer Erklärung eine andere Theorien als die von Arrow-Debreu oder die Entwürfe ihrer altliberalen Kritiker um F.A. Hayek, denen jede Form von Mathematik in der Ökonomie nach Planung riecht. Eine solche andere Theorie hat der marxistische Ökonom Anwar Shaikh von der New School University, New York, seit den siebziger Jahren entwickelt. Da der Kollege aber auf englisch schreibt, werden seine Beiträge hierzulande eher selten zur Kenntnis genommen. Zum Schaden der Diskussion. Denn Ergebnis seiner Arbeiten ist die Vertiefung alter Marxschen Einsicht von alltäglicher Relevanz: Ausbeutung ist nicht das Gegenteil des freien Wettbewerbs, sondern seine Grundlage. Ohne Warenform der Arbeitskraft keine allgemeine Warenproduktion. Produktion für den Profit statt für den Konsum ist nicht ein Fehler des Systems, sondern die Regel der kapitalistischen Akkumulation, die das Klassenverhältnis von Eigentümern und Nicht-Eigentümern der Produktionsmittel sicherstellt. Der brave Wunsch nach einer Produktion für den Bedarf war noch immer der Slogan der ökonomischen Romantik – oder Lobbyismus für die Konsumgüterindustrie. Die Frage ist nicht, ob die Wirtschaft für „die Gesellschaft“ da ist. Das ist sie immer. Die Frage ist, welche Bedürfnisse der Menschen in dieser Gesellschaft Eingang in die Zweckbestimmung der Produktion finden. Schließlich führt die Dynamik der Konkurrenz auch international nicht zum Ausgleich, sondern zur Polarisierung: Imperialismus ist die höchste Form der freien Konkurrenz. Oder, um es in der moralischen Sprache der neuen Zivilgesellschaft zu formulieren: das Recht des Stärkeren, nach innen wie nach außen.
Dabei kommt es vor, daß auch schwächere Unternehmen sich über die starken beschweren. Es gibt Konflikte im Unternehmerlager. Regelmäßig etwa murren bei Tarifverhandlungen in der deutschen Metallindustrie kleine und mittlere Unternehmen über allzu große Zugeständnisse der Großen der Branche an die Gewerkschaften: „Die können das ja zahlen, aber wir?“ Und sie kommen auch auf die Idee, sich mit ihrer Belegschaft gegen die Großen zu verbünden: Wenn zur Standortsicherung mit den Beschäftigten Lohnverzicht verabredet wird, um mit den Großen mithalten zu können. Ihre eigene Herrschaft im Betrieb stellen die Kleinunternehmer deswegen aber nicht in Frage. Im Gegenteil. Bis auf ein paar Verräter an ihrer Klasse fallen auch die kleinen und mittleren Unternehmer als Verbündete auf dem Weg zu einem neuen Sozialismus aus. Auch kleine Ausbeuter bleiben in der Regel lieber Ausbeuter, statt die Fronten zu wechseln. Und sie bewundern die Großen, die es wirklich geschafft haben.

Ein Exkurs: Ludwig Erhard und das Tafelsilber der Union
An dieser Stelle muß ein Lob erwähnt werden, das Albrecht von Lucke in der Tageszeitung „neues deutschland“ formuliert hat: Zwar sei die Behauptung, aus der sozialen Marktwirtschaft ergebe sich ein demokratischer Sozialismus, falsch, und „aus Liberalismus, konsequent befolgt, geht keineswegs, wie von Wagenknecht behauptet, notwendig Sozialismus hervor.“ Aber politisch-strategisch sei „der Versuch der Aneignung der sozialen Marktwirtschaft – über das Erhardsche Leitmotiv ‚Wohlstand für alle‘ – ein Meisterstück. Schließlich handelt es sich dabei heute weniger um ein eng umrissenes ökonomisches Konzept als vielmehr um den Leitbegriff der Konservativen und dieser Republik – also gewissermaßen um das Tafelsilber der Union.“ Da die Linke nach dem XX. Jahrhundert nicht mit sozialistischer Begrifflichkeit punkten könne, sei die „feindliche Übernahme“ eines alten und populären CDU-Slogans das Mittel der Wahl, genauer gesagt des Wahlkampfes 2013. (nd, 30. August 2012)
„Tafelsilber“ klingt gediegen. So gediegen, daß die Frage nach der darauf kredenzten Speise fast ungebührlich erscheint. Ist es aber möglich, durch Übernahme der gegnerischen Mythen eigene Schwäche zu überwinden? Schließlich hat kaum jemand so deutlich vorgeführt, daß liberale Ideologie mit einer Kritik des real existierenden Kapitalismus und seiner Großkonzerne nichts zu schaffen hat, wie gerade Ludwig Erhard. Ein kurzer Blick in die zeitgeschichtliche Forschung der letzten 20 Jahre reicht aus, um von der Nacherzählung ordoliberaler Legenden Abstand zu nehmen. Deshalb soll hier kurz nachgetragen werden, was in Sahra Wagenknechts Buch an Informationen über den Stichwortgeber Ludwig Erhard und an Quellenkritik fehlt.
Anders als die liberalen Emigranten Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow, deren Emigration im Buch vermerkt ist, blieb Ludwig Erhard ebenso wie Walter Eucken oder Alfred Müller-Armack auch nach dem 30. Januar 1933 in Deutschland und machte Karriere. Anders als Müller-Armack trat er nicht in die NSDAP ein. Anders als Walter Eucken wirkte er nicht akademisch und publizistisch an der Ausbildung des ordoliberalen Schule mit, die sich in den Jahren der Nazidiktatur als eine der anerkannten theoretischen Richtungen der deutschen Volkswirtschaftslehre in Wort und Schrift, in Zeitschriftenartikeln und Büchern ausbilden konnte. (Michael Brackmann, Vom totalen Krieg zum Wirtschaftswunder. Zur Vorgeschichte der westdeutschen Währungsreform 1948, Essen 1993, Kapitel 1 und 2) Ludwig Erhard hatte sich dagegen 1933 aus der Universität zurückziehen müssen und begann eine erfolgreiche Karriere in der Unternehmensberatung am „Institut für Wirtschaftsbeobachtung der deutschen Fertigware“.[3] Darüber kam er 1939 mit Joseph Bürckel, dem Reichskommissar für den Anschluß Österreichs, in Kontakt und begann eine weitere Karriere als Politikberater, genauer als Annektionsberater. Erst für Österreich, dann für Lothringen, schließlich auch im „neuen deutschen Ostraum“. Ein Zerwürfnis mit seinem Institutschef konnte er 1943 überstehen: Die Reichsgruppe Industrie – das Zentralkomitee des Großkapitals in Nazideutschland! – finanzierte ihm ein Institut für Industrieforschung. Dort machte er sich daran, neben den laufenden Arbeiten die Nachkriegsperspektiven für die deutsche Industrie zu prüfen.
Entgegen manchen akademischen Ökonomenkollegen, die den Widersprüchen der Kriegsfinanzierung durch forsche nationalsozialistische Ignoranz oder gar – horribile dictu! – durch eine Beteiligung des Privatkapitals an der Bezahlung der deutschen Kriegsschulden begegnen wollten, machte er sich für eine Komplettübernahme der Kriegskosten durch den Staat und einen anschließenden Schuldenschnitt stark. Dann sollte das Sachvermögen von den Lasten des Krieges befreit und ohne weitere staatliche Einmischung in die Nachkriegskonjunktur starten können. Selbstverständlich war dazu auch die Preisbildung wieder freizugeben. Gewerkschaften waren in seiner Nachkriegsvision nicht vorgesehen. Sicher sollte auch eine Verlagerung des Wachstumsimpulses weg von den Investitionsgütern hin zur Konsumgüterindustrie erfolgen. Aber nicht, um den Beschäftigten Gutes zu tun, sondern um die Verlierer der Rüstungskonjunktur im Unternehmerlager in die Nachkriegsordnung einzubinden. Voraussetzung seiner Pläne war, wie mehrfach betont, eine starke politische Autorität, die die harten Einschnitte für die Bevölkerung auch in der Nachkriegszeit durchsetzen konnte.
Die Niederlage des deutschen Faschismus hat eine direkte Umsetzung dieser Pläne verhindert: Statt des Einsatzes einer eigenen Staatsmacht mußte sich das deutsche Kapital erst mit den US-Amerikanern arrangieren, was nicht ohne Konflikte und schmerzliche Kompromisse abging. Doch als 1948 die Währungsreform anstand, setzten sich die deutschen Experten in zwei zentralen Punkten durch: Der sogenannte „Lastenausgleich“ war eine Farce, die das Kapital aus den laufenden Erträgen begleichen konnte. Und die Rationierung der materiellen Ressourcen wurde mit der Währungsreform ebenso beendet wie der Preisstopp, während die Löhne noch über Monate eingefroren blieben.[4] Auf diese Weise wurde das Motiv der westdeutschen Unternehmer wiederhergestellt: der Profit. Und deshalb taten sie nun, was sie zuvor schon gekonnt, aber mangels Gewinnaussichten unterlassen hatten: Sie ließen produzieren.[5]
Den Mann, der wie kein anderer für diese Form der Sozialisierung der Lasten und Privatisierung von Gewinnen stand, nachträglich zur Leitfigur für eine Kritik heutiger Krisenlösungen zu erheben, ist entweder grobe Unwissenheit oder eine Veralberung der Leserinnen und Leser.
Neu ist der Versuch nicht, durch Anknüpfung an Ludwig Erhard sozialliberalen Ideen mehr Schwungkraft zu geben. 1998, Am Ende der Ära Kohl versuchte dies auch der Sozialdemokrat Edelbert Richter in seinem Buch „Aus ostdeutscher Sicht. Wider den neoliberalen Zeitgeist“. Richter kam aus der alten DDR-Opposition, über den linken Flügel des Demokratischen Aufbruch war er – wie Friedrich Schorlemmer – Anfang 1990 zur SPD gekommen. Inzwischen Mitglied des Bundestages hatte er ein Jahr zuvor die „Erfurter Erklärung“ mit initiiert, die mit dem Hinweis auf die Sozialverpflichtung des Eigentums einen sozialen Richtungswechsel in der deutschen Politik befördern wollte und dafür Intellektuelle, Gewerkschafter und Politiker aus SPD, Grünen und PDS zusammenbrachte. Pünktlich zur Bundestagswahl versuchte er, den „Wohlstand für alle“ als Argument gegen neoliberale Politik ins Feld zu führen, der Union ihr propagandistisches „Tafelsilber“ zu nehmen. In einer Rezension für das „neue deutschland“ antwortete ich damals, die gut gemeinte Berufung auf den Architekten der Währungsreform von 1948 sei ein „derber Scherz“. Und am Schluß schrieb ich:

„Im Märchen heißt es, wer mit dem Teufel speisen will, sollte einen langen Löffel haben. Eine Übertragung dieser Weisheit auf die wenig märchenhaften Realitäten der heutigen Welt läßt Edelbert Richters guten Absichten wenig Raum: So lange Löffel, daß sich mit ihnen gefahrlos am Tische des Kapitals speisen ließe, haben die Sozialliberalen aller Couleur noch nicht erfunden. (nd, 25. September 1998)

Was folgte, war der Wahlsieg von Rot-Grün, der Kosovokrieg und die Unternehmenssteuerreform 2001, die „bedingungslose Solidarität“ mit George Bush und schließlich Hartz IV. 2005 trat Edelbert Richter aus der SPD aus – und 2007 in die LINKE ein. Das spricht für seine politische und persönliche Integrität. Für die Erfolgsaussichten der von Albrecht von Lucke empfohlenen und von Sahra Wagenknecht bereits befolgten Strategie spricht es nicht. Im Jahr 5 nach der Gründung der LINKEN und im Jahr 4 nach der Pleite von Lehmann Brothers wurde eine Erhöhung des Hartz IV Regelsatzes zum 1.1.2013 beschlossen: um 8 auf 382 Euro pro Monat.

Widersprüche und Solidarität
Damit haben wir nun große Teile der kleinen Volksfront der Kläger gegen den ESM hinter uns gelassen. Die empörten Leserbriefschreiber in der Zeitung „Die Welt“, die vor lauter Angst um ihr Geld in Schimpftiraden auf die Bundesregierung ausbrechen. Peter Gauweiler, der Sahra Wagenknechts „klare Worte“ lobt. Übrig bleiben die unerschütterlichen Verfechter des Kontrollrechts des Parlamentes – und die vielen, um die es immer geht: Die Klasse der Leute, die „für ihren Lebensunterhalt allein auf ihre Arbeitskraft angewiesen sind“(Timothy W. Mason) – und die sich deshalb noch lange nicht einig sein müssen.
Hinter uns gelassen haben wir auch das Buch von Sahra Wagenknecht: Zu dem, was jetzt kommt, hat sie nichts geschrieben. Wohl weist ihr Modell einer Wirtschaftsdemokratie den Belegschaften weitgehende Rechte zu. Auch schreibt sie einiges über die große Bevölkerungsmehrheit, die in den letzten Jahren mehr verloren als gewonnen, die trotz harter Arbeit ihren Lebenstandard nicht gehalten hat. Aber diese Bevölkerungsmehrheit hat für sie einen ganz bestimmten Namen: die Mittelschicht.
Nun könnte man verstehen, wenn eine Autorin aus pädagogischen Gründen ihre Leserinnen und Leser da abholen will, wo sie sich selber sehen. Und das wäre für eine Mehrzahl der Bundesbürger die „Mittelschicht“. Aber dann sollten die Leser auch aufgeklärt werden, was an diesem Selbstbild nicht stimmt: so ziemlich alles. Ulrike Herrmann hat das in ihrem Buch „Hurra, wir dürfen zahlen. Der Selbstbetrug der Mittelschicht“ aus dem Jahr 2010 auf vorbildliche Weise erledigt.[6] Sahra Wagenknecht, die ungern statistische Originalquellen benutzt und Fakten gern aus anderen Büchern anführt, zitiert und lobt die Darstellung Herrmanns ausdrücklich. Was sie nicht zitiert, ist eine kleine Bemerkung zum Kern des Problems: „Obwohl die Bundesrepublik objektiv eine Klassengesellschaft ist,“ schreibt Ulrike Herrmann, „ist sie in der subjektiven Wahrnehmung tatsächlich eine nivellierte Mittelstandsgesellschaft – das gilt vor allem für Westdeutschland.“(Hurra, 20) Dabei will Ulrike Herrmann will keine Klassenkämpferin sein. Fast alle würden gewinnen, wenn die Gesellschaft weniger ungleich wird. Ihr Vorschlag ist ein neuer New Deal – und Roosevelt hat den Kapitalismus in den USA nicht abgeschafft. Die Eliten – d.h. die besitzende Klasse – sollen Privilegien behalten dürfen: „Soziale Hierarchien wird es in einer kapitalistischen Gesellschaft immer geben, dafür sorgt schon das Prinzip des Eigentums.“(Hurra, 182) Aber Frau Herrmann hat verstanden, daß man ein Vorurteil nur dann ausräumen kann, wenn man ihm widerspricht.
Sahra Wagenknecht unterläßt diesen Widerspruch. Sie spricht lieber von der „Mitte der Gesellschaft“. Sie deckt alle Widersprüche zu und bedient mit der Sprache von „Leistung“ und „Erfolg“ genau jenes falsche Selbstbild, das für eine Mehrheit in diesem Lande eine Einsicht in die eigene Lage versperrt. Aber erst aus solchen Einsichten könnten gemeinsame Interessen entstehen, für die sich viele solidarisch einsetzen können. Hübsche Reden von „Gemeinwohl“ und „Mitte“ und menschlichen Werten reichen dazu nicht. Die Skepsis der Zuhörer ist wohl begründet.
Denn auch die Mehrheit, die Beschäftigten wie die Unbeschäftigten, machen einander Konkurrenz: auf dem Arbeitsmarkt. Spätestens mit Hartz IV ist dieser Druck auch bei den Stammbelegschaften angekommen, ohne das deshalb eine breite Bewegung zur Besserstellung der Erwerbslosen begonnen hätte. Die Gewerkschaften, die auch hierzulande nicht die Aufhebung der Konkurrenz unter den Beschäftigten, aber immerhin ihre Beschränkung organisieren, umfassen nur eine Minderheit der Betroffenen: Der gewerkschaftliche Organisationsgrad liegt bei knapp 20 Prozent. Betriebs-, ja vielleicht sogar branchenübergeifende Solidarität ist eine Sache für eher linksradikale Freaks. Der Slogan „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ findet regelmäßig Eingang in Reden zum 1. Mai. Auf www.Lohnspiegel.de kann man sich einen Einblick in die Realität verschaffen.
Keine Frage, Solidarität ist für Sahra Wagenknecht ein wichtiger Begriff. Sie fordert in ihrem Buch zur Solidarität mit Griechenland auf. Das ist richtig. Was fehlt ist die Frage, warum diese Solidarität so selten geübt wird. Sahra Wagenknecht will das ändern und behauptet, mit dem Fiskalpakt drohten „griechische Verhältnisse für Europa“. Sie setzt damit auf ein gesundes Eigeninteresse, daß sich auch ganz anders auswirken kann. Ist es wirklich so, daß in der Konkurrenz alle gemeinsam untergehen? Exakt hundert Seiten vor dem Lob der „Hidden Champions“ findet sich in ihrem Buch der Satz: „Die griechische Industrie wurde unter dem Druck der überlegenen Konkurrenz, insbesondere aus Deutschland, in die Knie gezwungen.“(37) Anschließend beklagt sie die mit der Einführung des Euros verlorene Möglichkeit, durch Abwertung der Drachme Produktivitätsunterschiede auszugleichen.
Nun funktioniert der Ausgleich der Außenhandelsbilanz durch Währungsabwertung auch nur in der schönen Welt von Ricardos komparativen Kosten und dem Heckscher-Ohlin-Theorem. Schon Roy Harrod wußte, daß Außenhandelsungleichgewichte nicht die Ausnahme, sondern die Regel sind und durch internationale Kreditbeziehungen finanziert werden. Rania Antonopoulos hat am Fall Griechenlands empirisch demonstriert, wie reale industrielle Entwicklung und der Wechselkurs der Drachme aufeinander bezogen waren: Für einen Glauben an die heilsame Wirkung währungspolitischer Souveränität bleibt da wenig Platz.[7]
Für eine deutsche Linke ist gefährlicher, wie bei Sahra Wagenknecht die zwei Seiten eines Weltmarkterfolgs auseinander dividiert werden. Denn die „überlegene deutsche Konkurrenz“ besteht nicht nur aus Unternehmensführungen. Werner Sauerborn warnte Anfang 2009:
„Wenn den Gewerkschaften die Handlungsoption auf globaler Ebene fehlt, von der aus sich die Machtverhältnisse definieren, werden sie mehr oder weniger zwangsläufig auf die Rolle des Mitspielers innerhalb dieser Standortkonkurrenz verwiesen sein. Fehlt ihnen die adäquate Widerstandsebene, werden sie schwer daran zu hindern sein, die second-best-Variante zu verfolgen, und die heißt, auf die Behauptung der eigenen Arbeitgeber im globalen Wettbewerb und die damit verbundene Tantieme in Form von Arbeitsplatzabsicherung und relativen Lohnerfolgen zu setzen, die dann zumindest für die Stammbelegschaften dabei abfallen können. Die Chance, dass dieses traurige und unsolidarische Kalkül, der beste Verlierer unter den global Erpressten zu sein, aufgehen könnte, stehen nicht schlecht.“
Die Entwicklung seither hat ihm recht gegeben. Das blanke Eigeninteresse führt selten zur solidarischen Aktion. Dem privaten Kontostand ist mit Unterordnung oft besser gedient. Nicht, daß hierzulande viele Weltmarktgewinner auf dem Arbeitsmarkt herumlaufen. Aber die soziale Lage hat sich auch in der letzten Krise relativ stabil gehalten. Daß es den meisten Leuten schlechter geht als vor 10 Jahren, wiegt schwer. Viele hierzulande wissen sogar, daß „Der Hauptfeind im eignen Land steht„. Schwerer wiegt, daß sie keine Alternative sehen, die ihrer durchaus realistischen Sicht der Schwierigkeiten gewachsen ist. So ziehen sie sich ins Private zurück und hoffen, weiterhin nicht nur zwischen Parteien und Arbeitgebern wählen zu dürfen, sondern auch zu etwas Eigentum zu kommen, sich als Person „eine äußere Sphäre ihrer Freiheit“(Hegel) geben zu können – auch wenn sie wissen, daß der Genuß dieses Eigentums zumeist auf die Zeit nach Feierabend beschränkt bleibt. Anders als Liberale gern glauben, schließt individuelle Freiheit Herrschaft nicht aus. Und anders als viele Linke annehmen, ist Herrschaft mit individueller Freiheit nicht unvereinbar. Ohne eine politische Auseinandersetzung mit dem Gedanken, daß man einmal den ganzen Laden übernehmen und ziemlich anders arbeiten muß, ist schon heute konsequenter solidarischer Widerstand gegen das Kapital nicht zu haben.
Womit wir dann bei einem ganzen Fragenkranz sind, der von Frau Wagenknecht souverän zur Seite geschoben wird: Planwirtschaft? Ostblock? Die reale Geschichte von Befreiungsbewegungen im Kapitalismus? Alles kein Thema. Lieber der vulgärliberalen Ablehnung der „Zentralverwaltungswirtschaft“ frönen, wo alles geplant wurde – so war es nicht, und selbst die Bundesbank kann die realen Verhältnisse im Ostblock genauer beschreiben. Das Problem war die ziemlich unvollständige Planung, die sich aus dem Ausschluß der Bevölkerungsmehrheit von der politischen Macht und der Zweckbestimmung der Produktion ergab. Sozialismus braucht mehr als mehr oder weniger aufgeklärte Eliten mit guten Absichten für „ihr Volk“. Vielleicht schiebt deshalb Frau Wagenknecht diese Fragen so schnell zur Seite.
Sozialismus ist nicht nur eine Frage des guten Willens. Es ist – wie der Widerstand heute – eine Frage des Könnens. Solidarische Lösungen von Konflikten brauchen Ressourcen, persönliche und sachliche Ressourcen: freie Zeit, Räume. Dazu braucht es ein Vielzahl von politischen und sozialen Organisationen, in denen die Erfahrungen ermüdender Konkurrenz und alltäglichen Klassenkampfes verarbeitet werden, in denen neue politische Ideen entstehen können. Dazu braucht es Wissen, wo potentielle Verbündete zu finden sind – und mit welchem Widerstand welcher Gegner zu rechnen ist. Ohne realistische Theorie keine realistische Praxis.

Quellen

[1] Sahra Wagenknecht, Freiheit statt Kapitalismus, 2., erweiterte Auflage, Frankfurt/New York 2012.

[2] Dirk J. Struik, Abriß der Geschichte der Mathematik, Berlin 1963.

[3] Zum folgenden vgl. Karl Heinz Roth, Wirtschaftliche Vorbereitungen auf das Kriegsende und Nachkriegsplanungen, in: Dietrich Eichholtz, Geschichte der deutschen Kriegswirtschaft 1939–1945, Bd. III: 1944–1945, Berlin 1996, Kap. VI, S. 509-607.

[4] Michael Brackmann, Vom totalen Krieg zum Wirtschaftswunder, Essen 1993.

[5] Christoph Buchheim, Die Währungsreform 1948 in Westdeutschland, Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 2/1988, 189-231.

[6] Ulrike Herrmann:Hurra, wir dürfen zahlen. Der Selbstbetrug der Mittelschicht. München 2010.

[7] Rania Antonopoulos: An Alternative Theory of Long-Run Exchange Rate Determination, 2009.

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