Eurokrise 2012: Zinsfragen sind Eigentumsfragen

Am 12. September wird das Bundesverfassungsgerichts seine Entscheidung in Sachen ESM/Fiskalpakt verkünden (Link). Bis dahin bleibt die Entscheidung des Bundestages vom 19. Juli in dieser Sache (Link) ein bißchen aufgeschoben, aber nicht aufgehoben. Am 20. Juli beschlossen die Finanzminister der Eurozone über die Freigabe der Mittel für spanische Banken: 30 Milliarden Euro sollen bereits bis Ende Juli bereitstehen. Besondere Befürchtungen über einen Einspruch des Bundesverfassungsgerichtes haben die zuständigen Regierungen offenbar nicht. Immerhin hatte sich eine recht große Koalition von 473 Bundestagsabgeordneten für die Ergebnisse der EU-Verhandlungen ausgesprochen. Einzelne Abweichler bei CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen können dieses Bild kaum trügen. Allein die Fraktion der Linken stimmte geschlossen gegen den Antrag des Bundesministeriums der Finanzen.

Der Beratungsbedarf des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichtes zeigt, daß die Damen und Herren in Karlsruhe Probleme sehen. Einerseits ist ausgeschlossen, daß das Gericht den Mahnungen der Regierung zum Trotz die gerade ausgehandelte Einigung über die Finanzhilfen kippt. Das gerade auch in besitzbürgerlichen Kreisen weit verbreitete Unbehagen ist eben nicht mehr als das: ein Unbehagen. Die umfangreichen Vorzüge des Euro für die deutsche Wirtschaft wird das Gericht nicht außer Acht lassen. Zudem ist es sicher richtig, daß auch große parlamentarische Mehrheiten nicht alles dürfen. Aber das Modell eines aufgeklärten Absolutismus ist nur für jene interessant, die sich schon als Berater des Fürsten – oder der Verfassungsrichter – sehen. Es ist eine zutiefst elitäre Vorstellung, die nicht zufällig Peter Hacks und Mitarbeiter der Frankfurter Allgemeinen Zeitung verbunden hat. Die zukünftige Gestaltung der Eurozone ist ein soziales, ökonomisches und politisches, kein juristisches Konfliktfeld.

Andererseits sind einige Konflikte offensichtlich ungelöst. Fragen nach der Legitimation der gerade beschlossenen Maßnahmen treffen selbst in der veröffentlichten Meinung auf Resonanz. Umfragen weisen aus, daß eine Mehrheit der Bundesbürger – aus sehr verschiedenen Gründen – der Rettung spanischer Banken skeptisch gegenüber steht. Wahrscheinlich werden sich Regierung und Parlamentsmehrheit einige Rügen und Ermahnungen durch das Gericht anhören müssen. Eventuelle Nachbesserungen lassen sich aber leicht erledigen: Die breite parlamentarische Mehrheit für den Euro ist in den aktuellen Machtverhältnissen fest begründet.

Genau diese Machtverhältnisse werden jedoch von den Kritikern der „Eurorettung“ souverän ignoriert. Dabei geht es nicht nur um die paar Hausgeister, die in den Regierungsfraktionen – und in den Regierungsfraktionen in Lauerstellung – das Leben bunter machen. Sie zeigen zumeist wenig Interesse an den asozialen Folgen ihrer Wirtschafts- und Finanzpolitik. Es geht vor allem um die Linksfraktion. Um die Parlamentsfraktion der Partei, die mit dem bestimmten Artikel beansprucht hierzulande „Die LINKE“ zu sein. Diese LINKE schlägt vor, die Eurokrise durch eine Direktvergabe von Krediten durch die Europäische Zentralbank (EZB) zu lösen. In der Bundestagssitzung vom 27. Juni erklärte der Fraktionsvorsitzende Gregor Gysi ihre Sicht der Dinge so:

Die Europäische Zentralbank hat den großen privaten Banken in Europa 1 Billion Euro zur Verfügung gestellt: als Darlehen für drei Jahre zu 1 Prozent Zinsen. Die Staaten, die das Geld brauchen, bekommen es jetzt von diesen Banken. Das heißt, wir vergeben an die großen privaten Banken Staatsgeld zu 1 Prozent, und dann verlangen diese von Spanien und Italien 6 Prozent Zinsen für das Geld, das sie ihnen geben.
Erklären Sie doch einmal der Bevölkerung, warum wir nicht direkt ein Darlehen an Spanien oder Italien vergeben! (http://www.linksfraktion.de/reden/sie-vergemeinschaften-schulden-banken-hedgefonds/)

Ja, wenn das so einfach ist, warum eigentlich nicht? Aber ist es so einfach? Viele Leute teilen die Position, die Gregor Gysi im Bundestag vorgetragen hat. Doch leider hat es der Abgeordnete Gysi ungeachtet seiner anwaltlichen Qualifikationen versäumt, das Kleingedruckte zu lesen. Die EZB hatte im Dezember 2011 verkündet, sie werde mit zwei längerfristigen Geschäften europäische Banken mit Liquidität versorgen (Link). Abgesehen von der langen Laufzeit von bis zu drei Jahren handelt es sich jedoch bei beiden Transaktionen im Umfang von insgesamt etwa 1 Billion Euro, die am 22. Dezember 2011 und am 1. März 2012 wirksam wurden, um ganz normale Refinanzierungsgeschäfte. So liegt auch der Zinssatz – wie üblich – auf dem jeweils aktuellen Niveau der Hauptrefinanzierungsgeschäfte. Das waren im Dezember noch 1 Prozent, seit dem 11. Juli 2012 nur noch 0,75 Prozent: Dieser Zinssatz ist es, der Gregor Gysi so niedrig erscheint – weil er den Charakter der hier getätigten Geschäfte verkennt.

Gysi meint, die Banken würden sich bei der EZB billig Geld leihen und könnten damit große Geschäfte machen. Tatsächlich ändert sich der Umfang der Mittel, die eine Bank als Kredit vergeben kann, durch ein Refinanzierungsgeschäft nicht. Denn im Tausch gegen die Euros, die eine Geschäftsbank von der EZB erhält, muß sie ihr zinstragende Wertpapiere übertragen: Wenn sie für 100 Millionen Euro gutgeschrieben haben will, muß sie der EZB mehr als 100 Millionen Euro Wertpapiere übertragen. Damit hat die Bank außer Liquidität nicht nur nichts gewonnen. Vielmehr muß sie Zinsen zahlen und verliert Zinseinnahmen. Aus diesem Grund sind Banken gewöhnlich sehr scharf darauf, ihre Liquidität zu optimieren. Sie wollen möglichst wenig Geld im eigenen Hause haben, weil es dort keinen Gewinn bringt. „Möglichst wenig“ heißt: gerade so viel, wie zur Erfüllung ihrer Verpflichtungen in modernen Zahlungssystemen nötig.

Die Einzelheiten zu diesen Geschäften sind den jeweils aktuellen Geschäftsbedingungen der Zentralbanken zu entnehmen. Ihre Zusammenhänge habe ich in einem Aufsatz darzustellen versucht: Das gesetzliche Zahlungsmittel: Staatliche Aufgabe und bürgerliche Kontrolle. Der Aufsatz ist Teil eines größeren, unfertigen Projektes: Keine Revolution ist auch keine Lösung. In anderen bereits fertig gestellten Teilen wird auch die Herkunft des Geldbedarfs der Banken (3.1 Wie funktioniert „Bezahlen“ heute?) diskutiert und erläutert, woher Banken die Mittel zu Kreditvergabe erhalten – von den Privateigentümern, die ihr Geld auf ihre Konten tragen: 2.2. Finanzsystem und Eigentum. Aufklärung durch Doppelte Buchführung.

Natürlich können Banken mit den Euros, die sie frisch von der EZB erhalten haben, auch spanische oder italienische Staatsanleihen erwerben. Inwieweit das ein gutes Geschäft ist, hängt von vielen Faktoren ab: nicht nur von den Kosten des Euroerwerbs bei der EZB, sondern vor allem von den Zinsen, den sie ihren Kreditgebern zahlen müssen – den Privateigentümern, die ihr Geld auf ihre Konten tragen. Wie die Statistiken über die Verteilung der Geldvermögen sehr klar zeigen, geht es dabei weniger um die kleinen Sparer. Die nutzen ihre Konten gar nicht zum Sparen, sondern nur zur Mietzahlung und sonstigen Überweisungen. Es geht um die Leute mit richtig viel Vermögen.

Ihre Einlagen sind es, die die Finanzierung der Staatsschulden durch die Banken ermöglichen. Zum Vergleich: Sicher macht es Eindruck, wenn von vielen Milliarden Euros hier und da geredet wird. Für die meisten Menschen ist das ein unvorstellbarer Reichtum. Und die Bilanzsumme der EZB beträgt sogar mehr als 3 Billionen: 3 000 Milliarden Euro. Doch die Gesamtverschuldung der öffentlichen Haushalte im Euroraum im Jahr 2011 betrug 87,3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes, also rund 7,5 mal 10 hoch 12 Euro: Mehr als das Doppelte der Bilanzsumme der EZB. Die Abhängigkeit der Staaten von „den Finanzmärkten“, die von der LINKEN gerne begrenzt oder sogar beendet werden soll, ist tatsächlich Ausdruck des bürgerlichen Charakters dieser Staaten: Die Abhängigkeit „von den Finanzmärkten“ ist nur eine Umschreibung für die reale Abhängigkeit von den vermögenden Privateigentümern. An ihnen dürfte vorerst auch der Vorschlag der LINKEN zur Vergesellschaftung der Banken scheitern: Kapitalisten legen meist Wert darauf, daß die Verwaltung ihrer Konten nicht in die Hände einer staatlichen Einrichtung fällt.

Der Einfluß der vermögenden Privateigentümer ist es schließlich auch, der über die Höhe des Leitzinses entscheidet. Denn diese Leute überlegen sich genau, wem sie zu welchem Zins ihr Geld zeitweise überlassen. Daniel L. Thornton, kein Linker, Vizepräsident der FED St. Louis, warf schon Ende der neunziger Jahre die Frage auf, inwieweit Leitzinsentscheidungen der Zentralbank überhaupt als unabhängige, als politische Faktoren gelten können: „Die entscheidende Frage ist: Wann hat die Fed die Märkte bewegt – und wann die Märkte die Fed?“(Link)

Der Leitzins ist ein Abzug vom Marktpreis beim Erwerb von Wertpapieren durch die Zentralbank. Damit setzt er diesen Marktpreis voraus. Entscheidend für den Geldmarkt sind die Marktpreise der kurzfristigen Staatsschuldtitel. Jenseits des Atlantik bildet die 3-Monats-T-Bill-Rate die „Benchmark“. Wie die Grafik (draufklicken für bessere Ansicht) für den Zeitraum 2004-2009 zeigt, gab die Veränderung der T-Bill-Rate stets den Trend für die Zinsentwicklung auf dem US-Markt für Tagesgeld (die Federal Funds Rate FFR) vor. Und was hier rein bildlich erkennbar ist, hat Thornton für die US-Finanzmärkte akribisch statistisch untersucht (Link).

Anders sieht es auch diesseits des Atlantik nicht aus. Hier bilden die deutschen Staatsschuldtitel die „Benchmark“, und der Zusammenhang zwischen der Rendite der kurzfristigen Bundeswertpapiere (Restlaufzeit unter einem Jahr) und der Entwicklung auf dem Euro-Tagesgeldmarkt sieht nicht anders aus: Die Renditeentwicklung der Bundeswertpapiere gibt das Niveau und die Richtung vor, die Geldmärkte und die Leitzinsentscheidungen der EZB folgen.

Selbstverständlich gibt es Unterschiede zwischen den Datenreihen. Das ist aber weniger verwunderlich als die klare Leitfunktion der deutschen Staatsschuldpapiere, haben sie doch in Euroland einen weitaus kleineren Marktanteil als die T-Bill auf den US-Finanzmärkten. Zwar hat die Bundesrepublik auch manche Schwierigkeiten, ihre Dominanz in der Eurozone immer durchzusetzen. Verschleißerscheinungen beim Personal sind nicht zu verkennen. Aber die ökonomisch untersetzte Führungsrolle wird von solchen Alltagssorgen nicht in Frage gestellt.

Wenn sich daher Gregor Gysi wirklich über die geringen Zinsen wundert, die die EZB verlangt, dann sollte er nach den Gründen suchen. Diese derzeit geringen Zinsen sind zum einen ein Spiegelbild der akutellen Konjunktursorgen der Investoren, denen profitablere Anlagen etwas unsicher erscheinen. Zum anderen zeigen sie die starke Stellung der Bundesrepublik in der Eurozone. Anfang Juli haben Anleger nicht zum ersten Mal negative Zinsen akzeptiert, nur um ihr Geld sicher in Bundeswertpapieren unterbringen zu können, erstmals sogar für Kreditlaufzeiten bis zu 2 Jahren (Link). Für die gleiche Kreditlaufzeit mußte Spanien am Tag der Bundestagsentscheidung 5,2 Prozent Zinsen bieten (Link). So stellt sich der Fortschritt der Konkurrenz in der Eurozone auf den Finanzmärkten dar.

Was heißt das politisch? Wie die Partei „Die LINKE“ mit der Eurokrise umgeht, wird man ihr wohl überlassen müssen. Ihr Charakter wurde im Post vom 28. Juni etwas ausführlicher diskutiert. Ein besonderer Optimismus bezüglich ihrer Rolle im Klassenkonflikt ist nicht angebracht. Damit ist die Frage nach den politischen Konsequenzen aber nicht beantwortet. Denn gerade in der Bundesrepublik gilt: Der Hauptfeind steht im eigenen Land.

Statistische Quellen:
Für die USA:
Federal Funds Rate und T-Bill-Rate aus der Serie H.15 der FED (Selected Interest Rates)
Für Euroland/Bundeswertpapiere:
Aus der Zinsstruktur abgeleitete Renditen für Bundeswertpapiere mit jährl. Kuponzahlungen / RLZ 1 Jahr / Tageswerte Serie BBK01.WT3400
Geldmarktsätze / EONIA / Tagessatz Serie BBK01.ST0304
Leitzinsen EZB: hier

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