Es geht um mehr. 25 Jahre INF-Vertrag, Teil 4 und Schluß

Zu den entscheidenden Elementen in der Herausbildung der Friedensbewegung gehörte eine tiefe Angst vor den Zerstörungen eines nuklearen Krieges und ein ebenso tiefes Mißtrauen gegenüber den Regierungen und Militärs. Der DDR-Autor Volker Braun schilderte eine solche Diskussion über die Logik der Abschreckung: „Wir müssen auf alles vorbereitet sein, damit ein Krieg nie eintritt,“ sagt der Offizier. Aber wenn doch ein Krieg beginnt? Da sagt der Offizier nichts mehr, nur der Fragende denkt sich: Darauf ist er wohl auch vorbereitet. Tatsächlich waren auch die Militärs nicht auf einen Kernwaffenkrieg vorbereitet. Angesichts der Zerstörungen durch den Einsatz hunderter und tausender Nuklearwaffen wirken ihre Planungen wie hilflose Sandkastenspiele – im Westen wie im Osten.

Sicher gilt alles, was richtiges an Kritik über gewaltförmige Versuche zur Konfliktregulierung gesagt werden kann, erst recht für militärische Gewalt und Kriegsführung. Und was schon in der Kritik an konventionellen Waffen gilt, gilt umso mehr in der Kritik an der Entwicklung, Produktion, Stationierung und Einsatzplanung von Kernwaffen. Tatsächlich gehen aber Nuklearwaffen in ihrem Zerstörungspotential über alles hinaus, was konventionelle Waffen anrichten können. Und auch im Vergleich mit den fürchterlichen Wirkungen biologischer und chemischer Waffen gilt: Kernwaffen sind die einzigen wahren Massenvernichtungswaffen. Deshalb muß sich eine Diskussion dieser Waffen von manchen gut eingeübten Stereotypen verabschieden: Ein Krieg unter Einsatz von Kernwaffen wäre keine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, es wäre das Ende der Politik. Seit der ersten Atombombe drehen sich die Überlegungen der Militärs und Experten um die Frage, ob und wie ein Atomkrieg führbar gemacht werden könnte. Trotz allen Glaubens an Spieltheorie oder gesellschaftliche Gesetze war seit Anfang der siebziger Jahre selbst den meisten Experten klar, daß ein Atomkrieg nicht führbar ist. Von dieser Einsicht hat es bis zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens noch fast 20 Jahre gedauert. Als ich irgendwann 1989 in Vertretung wichtig beschäftigter Offiziere als junger Unterfeldwebel der Artillerieaufklärung in meiner Einheit eine theoretische Unterrichtsstunde über den Schutz vor Massenvernichtungswaffen übernehmen mußte, konnte ich einiges über Atomphysik und Relativitätstheorie erzählen. Was den Schutz vor Kernwaffen betraf, fiel mir nichts ein. Denn lokal sind die Folgen einer Atomexplosion zwar mit konventionellen Kampfmitteln nicht vergleichbar, aber beschränkt – und entsprechend konnten sie auch in Schaubildern thematisiert werden: „Radien außerhalb derer Soldaten bei der Erddetonation kampffähig bleiben“. In einem Krieg ginge es aber nicht um einen Einsatz einer Kernwaffe. Ich habe daher empfohlen, diesen Unterricht als Beitrag zu Friedenserziehung zu betrachten: Als Aufforderung, solch einen Krieg unbedingt zu verhindern. Was auch immer man dazu tun kann. Keiner der anwesenden Soldaten oder Unteroffiziere sah das anders. Die breite Zustimmung zur Politik Gorbatschows hatte etwas mit den Ende eines Alptraums zu tun. Und wie negativ auch immer im Nachhinein die Politik eingeschätzt werden mag, die mit dem Namen des damaligen Generalsekretärs der KPdSU verbunden ist: Das Ende des Wettrüstens war eine ungeheure Entlastung, nicht zuletzt wirtschaftlich und ökologisch.

Diese Erfahrung widerlegt den zuweilen geäußerten Zweifel, ob denn zu Recht von einem Ende des Kalten Krieges gesprochen werden könne. Auch auf dem Workshop war diese Position zu hören. Und tatsächlich, wenn man die herzlichen Bekundungen des Einvernehmens der Jahre 1990 oder 1991 zum Maßstab nimmt, dann ist natürlich eine deutliche Abkühlung gerade im Verhältnis zwischen Rußland und „dem Westen“ nicht zu übersehen. Doch die Austragung von zwischenstaatlichen Konflikten ist das eine – etwas sehr anderes ist ein Kalter Krieg, in dem auf beiden Seiten der jeweils andere Block als existenzgefährend wahrgenommen wurde. Wer die heutige Militärpolitik der USA verfolgt, kann klar erkennen, daß es vor allem um die Sicherstellung der Vormachtstellung in möglichen asymmetrischen Kriegen, nicht aber um die Abwehr eines Angriffs auf das „Homeland“ oder die Bekämpfung eines prinzipiell gleichwertigen Gegners geht. Nicht zuletzt im Umfang und in der Struktur der Rüstungsausgaben läßt sich dieser Wandel erkennen. Stephen I. Schwartz hat in langjährigen Untersuchungen versucht, gerade in den besonders abgeschirmten Bereich der Ausgaben für Nulearwaffen etwas mehr Licht zu bringen: Zur Zeit sind es insgesamt etwa 52 Milliarden US-Dollar pro Jahr. Inflationsbereinigt geben die USA heute jährlich mehr für ein kleineres Nuklearwaffenarsenal aus als für die großen Bestände Ende der achtziger Jahre. Obwohl an allen Stellen strikte Haushaltsdiziplin gefordert wird, gibt es bis heute keine Transparenz über die Kosten der Nuklearwaffenprogramme. Trotzdem entfallen gerade 7 Prozent des Budgets des US-Verteidigungsministeriums auf Kernwaffen. Denn der Westen hat den Kalten Krieg gewonnen. Und das heißt auch, daß der Kalte Krieg seit 20 Jahren vorbei ist.

Mit dem Ende des Kalten Krieg hängt auch zusammen, daß manche klugen Gedanken, die zu seiner friedlichen Einhegung entwickelt wurden, danach nicht mehr mit gleicher Dringlichkeit verfolgt wurden. Die Sieger sahen wenig Grund zu besonderen Rücksichten, die sich nicht mit ihren eigenen deckten. Die Besiegten hatten andere Sorgen. Auf dem Workshop wurde von Diplomaten wie Experten viel von Vertrauen gesprochen. Ob das in Rußland auch so freundlich verstanden wird, steht auf einem anderen Blatt. Dort erinnert sich noch jeder an den leninistischen Spruch: „Vertrauen ist gut. Kontrolle ist besser.“ Gerade wenn es um Macht geht. Besonders auffällig ist es, wenn einerseits für Vertrauen geworben wird – um dann wieder auf den Gegenseitigkeit der künftigen Entspannungsschritte zu bestehen. Das sieht ein bißchen einseitig aus, mit dem Vertrauen – ihr Russen sollt uns vertrauen, wir kontrollieren lieber. Da sollte man das mit der Kontrolle doch lieber gleich direkt in Angriff nehmen.
Die Frage ist aber, was kontrolliert werden soll – und ob es etwas hilft. In den achtziger Jahren entwickelten Friedensforscher und Militärs das Konzept struktureller Nichtangriffsfähigkeit als Grundlage einer neuen friedlichen Koexistenz. Es ging nicht um den prinzipiellen Verzicht auf militärische Mittel. Insofern ist es kein pazifistisches, noch nicht einmal ein antimilitaristisches Konzept. Aber es ging um den prinzipiellen Verzicht auf alle Mittel, einen Angriffskrieg zu führen – was nach Artikel 26 Grundgesetz in der Bundesrepublik selbstverständlich sein sollte, aber nicht ist. Die Frage ist nicht, ob Rüstungen kontrolliert werden sollen, sondern was kontrolliert wird: Der aktuelle Nichteinsatz von Angriffsmitteln – oder die Nichtexistenz dieser Mittel.

Das interessante ist nun, daß dieses weit entwickelte Konzept friedlicher zwischenstaatlicher Beziehungen mit dem Ende des Kalten Krieges gänzlich von der Bildfläche verschwand. Es ist in der öffentlichen Debatte so mausetot, daß sich selbst Beteiligte der alten Diskussionen nur verwundert erinnern, wenn es doch noch einmal erwähnt wird. Für die herrschende Politik bestanden die Gründe nicht mehr, eine so weitgehende Einschränkung ihrer Möglichkeiten zu akzeptieren. Der gefährliche Gegner fehlte ebenso wie der öffentliche Druck. Die Friedensforschung aber war nicht in der Lage, außer in einigen entlegenen Ecken am Erkenntnisfortschritt der Achtziger festzuhalten. Mit der Verschiebung des Interesses auf asymmetrische und regionale Konflikte folgte sie dem Interesse an der Regelung der vorhandenen Konfliktlagen. Die Idee struktureller Angriffsunfähigkeit ging aber genau darüber hinaus. Der eigentliche Fortschritt bestand darin, die vorhandenen Machtverhältnisse zu kritisieren. Die aktuellen Diskussionen sind nicht zuletzt dadurch charakterisiert, was in ihnen fehlt: Genau diese Kritik.

Mit den regelmäßigen Luftschutzübungen sind auch manche Ängste aus dem Alltag verschwunden und andere Sorgen an ihre Stelle getreten. Selbst viele, die in den Achtzigern auf die großen Demonstrationen gegen die Atomraketen zogen, haben sich in dieser Frage auf eine Beobachterrolle zurückgezogen. So schön es wäre, wenn Zehntausende nicht nur gegen Atomkraftwerke, sondern ebenso konsequent gegen die immernoch existierenden Kernwaffen auf die Straßen gehen würden – Bewegungen kann man nicht backen. Der Autor dieser Zeilen ist von besonderen Hoffnungen auf die umstürzend friedliche Wirkung des bloßen guten Willens weit entfernt.

So wichtig es aber ist, angesichts des nötigen langen Atems Friedensbewegungen nicht zu überschätzen und mit unerfüllbaren Hoffnungen zu überladen, so wichtig ist es auch, an die vorhandene Verantwortung jedes und jeder Einzelnen für die manchmal schwachen Wirkungen ihres Tuns zu erinnern. Denn eines ist sicher: Friedensbewegungen sind friedlich, aber nicht harmlos. Stets noch haben die Beamten in den staatlichen Apparate sie mißtrauisch beäugt. Wer nicht dem Nationalismus der nationalen Sicherheitsinteressen erste Priorität zumißt, wird schnell als Agent irgendwelcher konkurrierenden Mächte verdächtigt. Ein wirkliches Interesse an gegenseitigem friedlichem und menschenfreundlichem Zusammenleben können sich diese Herrschaften eben gar nicht vorstellen. Und sie spüren noch etwas anderes: Daß ihnen diese Friedensfreunde tatsächlich ins Handwerk pfuschen wollen. Friedensbewegungen zielen – und ihre Gegenüber in Regierungen staatlichen Machtapparaten wissen das sehr genau – auf eine Einschränkung staatlicher Souveränität. Nicht mehr alle verfügbaren Mittel sollen zulässig, nicht mehr alle Mittel zur Verfolgung der Regierungsziele eingesetzt werden können. Selbst wenn Vorschläge zu einer Minimierung der nuklearen Rüstungen explizit auf die vollständige Abschaffung der Atomwaffen in den nächsten Jahrzehnten verzichten, selbst wenn sie Rücksicht auf Sicherheit und Abschreckung nehmen, selbst wenn sie noch so diplomatisch eingekleidet sind, die Botschaft ist klar: Gerade die mächtigsten Waffen sollen den Regierungen weggenommen werden. Dazu gehören gelungene Kommunikation und eine qualifizierte öffentliche Debatte. Aber es braucht noch mehr. Deshalb kann dieser Beitrag nicht anders enden, als mit der Erinnerung an einen zentralen Gedanken unseres alten Konzepts aus dem Jahr 2007, der nichts an Aktualität verloren hat:

Eine friedenspolitische Alternative darf sich nicht auf die theoretische Einsicht der außenpolitischen Eliten verlassen. Realistisch ist nicht, was im Rahmen der gegenwärtigen Bedingungen aktuell möglich erscheint. Vielmehr ist eine Veränderung dieser Bedingungen eine notwendige Voraussetzung für eine friedlichere und menschenfreundliche Welt.

Die Serie

Ein Anfang vom Ende? 25 Jahre INF-Vertrag, Teil 1
Der Workshop: Themen und Positionen. 25 Jahre INF-Vertag, Teil 2
Ein unwahrscheinlicher Erfolg. 25 Jahre INF-Vertrag, Teil 3

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