Die Sowjetunion: Vorschläge zum Nachdenken

Russlands Präsident Wladimir Putin hat am 21. Februar 2022 versucht, der russischen Öffentlichkeit seine Version der Geschichte der Sowjetunion und der Ukraine zu verkaufen. Ohne historische Studien war schon vier Tage später klar, dass sie nicht stimmt: Anders als Putin behauptet gibt es eine Ukraine und ihre Streitkräfte sind dabei, sie zu verteidigen. Warum der Krieg nicht so läuft, wie geplant, das erläutert mein Beitrag für die aktuelle Ausgabe von lunapark21 (im Druck).
Damit sind aber die historischen Fragen noch nicht beantwortet. Relevant ist nicht das Mittelalter, sondern die osteuropäische und sowjetische Geschichte im XX. Jahrhundert. Zur Zeit wird gerne vergessen, wie historische Vergleiche korrekt anzustellen sind: Erstmal muss man beide Seiten gut kennen, bevor man beim Vergleich neues Wissen bilden kann. Sonst werden nur alte Vorurteile wiederholt.

Der Preis des Sieges

In grenzenloser Überschätzung der Macht großer Männer ist für Putin Lenin der Hauptschuldige am Zerfall der Sowjetunion. Fakten interessieren da nicht. 2017 habe ich in einem Beitrag einige Mythen über die ersten Fünfjahrpläne und die tatsächliche Entwicklung der sowjetischen Wirtschaft im Zweiten Weltkrieg diskutiert. Am Schluss heißt es:

Mitte der 1960er Jahre legte der ungarische Marxist Ferenc Janossy eine Untersuchung über „Erscheinung und Wesen der wirtschaftlichen Entwicklung“ vor: „Das Ende der Wirtschaftswunder“. Eine seiner Thesen war, dass Phasen sehr raschen Wachstums nach schweren Einbrüchen, wie etwa in der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg, nicht unbegrenzt fortgesetzt werden können. Denn mit dem Ende der Rekonstruktionsperiode endet auch der Aufholprozess zur „Trendlinie“ – und dann wird die Wachstumsrate sinken.
Eines seiner Beispiele sind die Rekonstruktionsperioden der Sowjetunion nach dem Ersten und nach dem Zweiten Weltkrieg. Anhand der ihm zugänglichen Daten sieht er auch hier eine Rückkehr zum Vorkriegstrend. Das war – leider – übereilt. Nicht nur die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs hatten die Sowjetunion um Jahre zurückgeworfen. Mehr als die Investitionen zweier Fünfjahrpläne waren verloren. Vor allem ließen die ungeheuren menschlichen Verluste ein Aufholen der Verluste nicht zu. 27 Millionen Menschen hatten im Krieg gegen Nazideutschland ihr Leben verloren. Das waren nicht nur in absoluten Zahlen gut vier Mal mehr als Deutsche zu Tode kamen; der Anteil der Getöteten lag in Russland mit 14 Prozent auch fast doppelt so hoch wie in Deutschland (7,8%). Kombiniert mit den Lasten der Hochrüstung im Kalten Krieg hatte die Sowjetunion so keine Chance.
Ein Vergleich mit der Volksrepublik China zeigt die Unterschiede. Die chinesische Politbürokratie hatte ganz andere Möglichkeiten, Fehler zu machen. Denn die Katastrophen des „Großen Sprungs“ und der „Kulturrevolution“ sind das eine – das andere ist, dass die Volksrepublik Zeit ihres Bestehens keinen großen Krieg führen musste. Der Preis des Sieges

Wissen und Macht

Ein weiterer Beitrag zum Jahrestag der Oktoberrevolution wandte sich zwei besonders schwierigen Themen der sowjetischen Wirtschaftsgeschichte zu: Der Rolle von Geld und Preisen und der Bevölkerungsentwicklung. Die Opfer der Kollektivierungspolitik und des Zweiten Weltkrieg durften das Bild der erfolgreichen Parteiführung nicht verdunkeln. Und auf keinen Fall sollte irgendwo deutlich werden, dass es Alternativen in der sowjetischen Geschichte gab. Es gab sie:

Nikolai Bucharin warnte in seinem Artikel „Notizen eines Ökonomen“ im September 1928 vor einem eigentümlichen Geldfetischismus, der in der staatlichen Bewilligung von Rubel-Summen schon alle Schwierigkeiten entschieden sah: „деньги будут – все будет“ : „Gibt es Geld, wird es alles gehen“. Der Parteiveteran Moissei Frumkin hatte daraufhin voller Sarkasmus geschrieben: ein „künftiger Historiker wird in Unglauben verfallen, wenn er mit Bucharins ‚Notizen eines Ökonomen‘ konfrontiert ist, die eine und eine halbe Pravda-Seite benötigen, um die umstrittene Wahrheit zu beweisen, dass man keine Gebäude ohne Baustoffe errichten kann.“
Frumkin war schon vor der Revolution Bolschewik, in den Gewerkschaften tätig, verbannt. Nach der Revolution im Apparat für die Lebensmittelversorgung der Städte – u.a. im Zentrosojus. Ab 1922 stellvertretender Minister für Außenhandel und stellvertretender Finanzminister. Er war einer schärfsten Kritiker der stalinistischen Wendung gegen die Bauern 1928 und noch vor Bucharin das Beispiel Stalins für die „rechte Abweichung“. 1937 verhaftet wurde er in einer der letzten großen Aktionen gegen vormals prominente Genossen am 28. Juli 1938 zum Tode verurteilt und erschossen.
form follows function. Das Zentrosojus-Gebäude: Buchhaltung für den sowjetischen Aufbau

Lupenreine Demokraten

Doch nicht nur im Kreml hat man Schwierigkeiten mit der Geschichte. In den heutigen Klagen über die russische Machtpolitik wird gern verdrängt, dass Gewalt als Mittel der Politik durchaus Beifall im Westen fand, wenn die richtigen Leute getroffen wurden. Putin war der erfolgreiche Erbe des korrupten Präsidenten Boris Jelzin, der 1993 ein widerspenstiges Parlament kurzerhand aufgelöst hat. Einen Blick auf die postsowjetische Geschichte Russlands wirft der Beitrag Eine blütenweiße Fassade. Wie der kapitalistische Zweck undemokratische Mittel heiligt.

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