Erhard Weinholz: Unser linkes Ding. Ein Rückblick auf die VL

Zum Durchlesen+Nachdenken über die Geschichte der Initiative für eine Vereinigte Linke in der DDR , die auf diesem Blog im Kopf jeder Seite erscheint, hat der Kollege Erhard Weinholz einen etwas längeren Beitrag geschrieben, der hiermit der interessierten Öffentlichkeit übergeben wird. (Druckfassung hier) Auch im Jahr 24 nach dem Herbst ’89 ist, wie man lesen kann, manches immer noch offen.

Erhard Weinholz
Unser linkes Ding. Ein Rückblick auf die VL

„Für eine Vereinigte Linke in der DDR! Appell!“: „….wenden wir uns mit diesem Aufruf an alle politischen Kräfte in der DDR, die für einen demokratischen und freiheitlichen Sozialismus eintreten.“ Böhlen, Anfang September 1989.

1.
An einem Morgen im Frühsommer des Jahres 1990 schob ich mein altes, bordeauxrotes Damenfahrrad vom Hof auf die Straße und machte mich, zum ersten Mal seit langem, auf den Weg zur Arbeit. Es war kühl an jenem Tage, kann sein, dass ich das dünne hellblaue Tuch um den Hals trug, das eine Freundin mir geschenkt hatte, der ich noch immer nachtrauerte. Ich trug es oft, obwohl eine andere Ex-Freundin fand, dass ich damit schwul wirke. An der Lenkstange hing meine vietnamesische Basttasche, Trapezform, geflochtene halbrunde Henkel – das sah natürlich erst recht schwul aus. Und sicherlich hatte ich mir – wie üblich – das handgefertigte VL-Abzeichen ans Hemd gesteckt: etwa vier Zentimeter Durchmesser, schwarzer Untergrund, darauf ein dickes rotes V, dessen rechter Strich senkrecht steht, und, etwas höher angesetzt, ein ebenso dickes rotes L. Einem mathematischen Zeichen ähnelt dieses V, dem für „Wurzel aus…“, dem Radix-Zeichen. Das passte zu uns.
Doch was ist die Wurzel allen Übels, die Wurzel, die wir ziehen wollten? Folgt nicht jeder Antwort ein neues „Warum“? Und was hat der rote Stern zu bedeuten, der fünfzackig neben dem L steht? Das hatte mich auch ein Westjournalist bei unserer Wahlkampffete in der Kongresshalle am Alexanderplatz gefragt, zwei Wochen vor der ersten freien Volkskammerwahl, die zugleich die letzte war. O Schande, ich hatte darüber nicht nachgedacht, konnte also, obwohl ich mich viel mit russisch-sowjetischer Geschichte beschäftigt hatte, nur dumm herumstammeln, und das vor laufender Kamera. Selbst heute kann ich nur mutmaßen. Stern gleich Oktoberrevolution, das ist klar. Aber wir waren ja keine Leninisten, hatten uns nicht deshalb als Bürgerbewegung zusammengefunden, weil es zur Partei mit garantiert führender Rolle nicht gereicht hatte. Wir wollten nicht den wahren demokratischen Zentralismus – „Wahl von unten nach oben, Beschlussfassung von oben nach unten“ – statt des nominellen der SED, bei dem nur der Zentralismus real war, wir folgten einem völlig anderen Organisationsprinzip: der Basisdemokratie. Eine bloße Parteisache war das 1917 allerdings auch nicht gewesen – die Räte, die Arbeiterkontrolle in den Betrieben, sie waren oft spontan entstanden, als Ausdruck des Basiswillens. Sollte der Stern daran erinnern? Den Signet-Gestalter kann ich nicht fragen, denn seinen Namen weiß hier niemand mehr.
Das Tuch umgebunden, die Basttasche am Lenker, das Abzeichen am Hemd, so fuhr ich an jenem Morgen durch den Prenzlauer Berg, über den Alex und zuletzt über die Schleusenbrücke hin zum Werderschen Markt. Die Rasenfläche gleich links hinter der Brücke war lange nicht gemäht worden, Wildwuchs herrschte vor dem einstigen Reichsbankgebäude, jener großen, grauen Festung, die nicht mehr den Apparat des ZK der SED beherbergte und noch nicht den des Auswärtigen Amtes: Einige Monate lang gingen hier im Haus der Parlamentarier, wie es nun hieß, die Mitarbeiter der Volkskammer, ihrer Fraktionen und Abgeordneten ein und aus. Auch mich hatte ein Abgeordneter eingestellt, zusammen mit anderen, und wahrscheinlich gab es an diesem ersten Arbeitstag, es war ein Sonnabend, einiges zu besprechen.
Der Raum für uns Mitarbeiter lag im vierten Stock, aber wo genau in diesem Riesenbau, ist mir nie so recht klar geworden, denn man blickte von dort in einen der vier oder sechs Innenhöfe. Ausgestattet war unser Büro mit billigen, hell furnierten Möbeln, wie man sie in den Amtsstuben von Staat und Partei überall im Lande fand. Augenfälliges Überbleibsel dieser Vergangenheit und zugleich einziger Zimmerschmuck, wenn man es so nennen will, war eine angeschlagene Thälmannbüste aus patiniertem Gips, die vom Schrank aus über alles hinwegsah. Th., unser Abgeordneter vom Aktionsbündnis Vereinigte Linke, war an diesem 2. Juni wohl nicht mit dabei, er hatte ungeheuer viel zu tun. 42 war er zu der Zeit, voller Energie, und doch wurde mir, wie ich am 22. Juni notierte, ganz bänglich zumute, wenn ich sah, was er alles an Terminen wahrnahm. Seinen Arbeitsplatz hatte er drüben im Haus der Volkskammer, zuvor Palast der Republik. Einmal traf ich ihn dort schlafend vor dem PC. Es war ihm peinlich; Gefühle oder Schwächen gar zu zeigen war damals nicht seine Art. Auch ließ er sich nie an die Wand reden; rasch und genau analysierte er die Verhältnisse ebenso wie die Meinungen anderer. So war er eine wichtige Figur der (Ost-)Berliner Oppositionsszene geworden; den Appell „Für eine Vereinigte Linke in der DDR“, die sogenannte Böhlener Plattform, hat er mitformuliert. „Die Teilnehmer des Treffens /in Böhlen – E. W./“, heißt es da eingangs, „berieten angesichts der wirtschaftlichen Situation und der sich entwickelnden politischen Krise in der DDR über die Notwendigkeit einer tiefgreifenden politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Umgestaltung, die dafür notwendige Zusammenarbeit aller auf den Positionen des Sozialismus stehenden weltanschaulichen und politischen Kräfte in der DDR und die Notwendigkeit der Erarbeitung einer linken, sozialistischen Alternative im Geiste sozialistischer Demokratie und Freiheit.“ (1) Sollten Sätze wie dieser darauf vorbereiten, dass der Weg zu einem besseren Sozialismus lang und beschwerlich sein würde? Aber das wusste ich sowieso, ich war viel mit Theorie beschäftigt und hatte umfängliche Abhandlungen auf der Debattenseite des Neuen Deutschland veröffentlicht. Doch nicht deshalb hatte Th. mich als wissenschaftlichen Mitarbeiter eingestellt, sondern weil ich der VL ehrenamtlich im Arbeitssekretariat des DDR-Sprecherrates diente. Alles wurde uns zur Arbeit, freiwillig geleisteter natürlich, das Vergnügen dagegen fehlte: gemeinsam essen, trinken, feiern – auch wenn es wenig zu feiern gab für uns.
Die Gruppen im Lande entschieden über ihre Arbeit weitgehend selbst, der Sprecherrat war kein Zentralkomitee und das Arbeitssekretariat kein Sekretariat des ZK. Statt Sekretärs- wurde hier Sekretärinnenarbeit verrichtet: Verbindung zur Basis halten, im Sprecherrat Protokoll führen, das Protokoll abtippen, vervielfältigen und schließlich an die Gruppen versenden. Gut dreißig waren es damals, mit vielleicht 1000 Mitgliedern – aber was hieß schon „Mitglied“? Wer zur Vollversammlung kam, stimmte auch ab. Manchmal hatte ich nach abendlichen Sitzungen Telegramme zu versenden, stand dann gegen Mitternacht Schlange im Postamt am Ostbahnhof, dem einzigen, das rund um die Uhr geöffnet hatte. Wenn die Zeit still dahingeht, so dachte ich, darf man den lieben Gott einen guten Mann sein lassen, man darf sogar am 1. Mai Erich Honecker zuwinken – die Herrschenden meinen dann, alles sei in Ordnung in ihrer Republik. Ist aber die Stunde da, so muß man bereit sein und darf selbst niedere Arbeiten nicht scheuen. Th. hatte mich gebeten, die Sekretariatsarbeit gemeinsam mit H. zu übernehmen, also hatte es wohl sein müssen. Es war sogar ehrenvoll.

2.
H., der sich mit mir auch die Mitarbeiterstelle teilte, wirkte vertrauenerweckend; wir würden, so hoffte ich noch an jenem Sonnabendmorgen, gut zusammenarbeiten. Unsere erste Begegnung lag schon längere Zeit zurück: An einem sonnigen Herbstabend war mir am Weinbergspark ein Paar entgegengekommen – eine blonde Frau und ein großer, kräftiger, deutlich jüngerer Mann. Ihn, es war H., kannte ich nicht, wohl aber sie: 1980 hatten wir uns an der Akademie der Wissenschaften als Ferienhelfer kennengelernt; gleich auf der Busfahrt an die Ostsee waren wir miteinander ins Gespräch gekommen. V. war eine höchst kritische SED-Genossin, hatte Charme und Witz, obendrein war bei ihr alles an der richtigen Stelle, und ich hätte mich sicherlich um sie bemüht, nur gefiel mir ihre Nase nicht. Zum Glück, wie ich später manches Mal dachte. Ich überließ daher gern einem anderen Helfer das Feld, ihrem späteren Ehemann, blieb aber mit beiden noch geraume Zeit in Kontakt, privat und im Pankower Friedenskreis, den er eifrig bespitzelte. Diese Begegnung am Weinbergspark – 1987 muß das gewesen sein, denn im Januar darauf wurden V. und H., der zuvor als Wehrdienst-Totalverweigerer nur knapp dem Zuchthaus entgangen war, am Rande der Liebknecht-Luxemburg-Demonstration verhaftet. V. reiste darauf in den Westen aus, kam später zurück, ging zu den Grünen, dann zur CDU und schreibt heute für die Junge Freiheit; H. wurde nach einigen Tagen aus der Haft entlassen, blieb im Lande, war 1989 an dem Treffen beteiligt, bei dem die Böhlener Plattform entstand, und saß nun mit mir am Tisch.
Oder waren wir auch ohne Th. zu dritt an diesem Tage? Denn A., ein recht junger Mann von lässiger Eleganz und beträchtlicher Rednergabe, hatte es mit enormer Hartnäckigkeit ebenfalls geschafft, hier angestellt zu werden. Er kümmerte sich unter anderem um die Bestellung von Büromaterialien, wobei er sich als parlamentarischer Geschäftsführer der AVL-Fraktion ausgab. Doch es gab keine solche Fraktion. Das Aktionsbündnis, VL plus Die Nelken, war mit 0,2 % der Wählerstimmen gerade noch ins Parlament gerutscht, Th. war unser einziger Abgeordneter und in seinem Ausschuß, dem für Wirtschaft, daher ohne Stimmrecht. Dennoch wird er sich, wie ich ihn kenne, auf jede Sitzung gründlich vorbereitet haben. Und dann schrieb er auch noch fürs ND. Seine Kolumne über den 17. Juni 1953 erschien gerade an dem Wochenende, da sich Mitglieder aus vielen Gruppen der VL in Dresden trafen. Der Ort galt als besonders reaktionäres Nest, und ich hatte schon befürchtet, eins auf den Nüschel zu kriegen, wenn ich am Bahnhofskiosk das Blatt verlangte. Aber Geschäft ist Geschäft.
Das Dresdener Treffen war, versteht sich, kein gewöhnliches, sondern ein Arbeitstreffen, und gearbeitet wurde tatsächlich viel. Zurück fuhr ich zusammen mit anderen im Auto; unsere beiden Berliner Vertreter im DDR-Sprecherrat waren dabei, wer noch, habe ich vergessen. Sonderlich gut kannten wir uns alle nicht, und doch herrschte im Gespräch zwischen uns jene Vertrautheit, die ich damals oft in der VL gespürt habe. In einer anderen Atmosphäre hätte ich meine alles in allem recht prosaische Arbeit für die VL nicht leisten wollen.
Am liebsten waren mir die Nachmittage in der Podium-Redaktion der Berliner Zeitung: Podium, das war das Organ der Bürgerbewegungen und neuen Initiativen; einmal pro Woche durften wir eine Seite in eigener Regie gestalten. Je zwei von uns sieben teilten sich reihum die Arbeit. Ob es um Frauenrechte ging oder den ersten Golfkrieg oder den Umgang mit den Stasiakten, fast immer überwog das Gemeinsame. Einmal wurde ein Westpraktikant durch die Räume geführt: „Hier also die Podium-Redaktion, Frau S. vom NEUEN FORUM und Herr W. von den Vereinigten Linken.“ Der junge Mann schaute mich so entgeistert, geradezu erschrocken an, als sei ich eben dabei, ein langes Messer aus der Tasche zu ziehen.
Immer dienstags saß ich als Ansprechpartner für alle und jeden in unserem verkramten Büro im Haus der Demokratie an der Friedrichstraße; die Mediengruppe hatte das organisiert, eine der sieben oder acht thematischen Gruppen in der Berliner VL. Nach dem 18. März hatte der Andrang verständlicherweise stark nachgelassen. In den ersten Wochen hatte ich gelegentlich noch Mitteilungen an ADN durchzugeben, so die Erklärung für unseren Austritt aus der letzten Regierung Modrow: Seinen Plan „Deutschland einig Vaterland“ lehnten wir ab, unser Land sollte selbständig bleiben. Die Erklärung war typisch VL: verbissen im Tonfall und weitschweifig obendrein; als ich sie ins Telefon verlas, bekam ich Schamanfälle. In der Wochenzeitung Die Kirche hatte im Herbst 1989 jemand kurz und knapp fünf Hauptforderungen aus der Böhlener Plattform genannt – das reichte mir, um zu wissen, dass das mein Verein sein würde.
Der eine Tag im HdD war für mich der anstrengendste, anfangs auch der interessanteste der Woche. An den anderen Arbeitstagen eilte ich nun im Haus der Parlamentarier gleich früh zur Poststelle, steckte in meine Basttasche, was an Th. gerichtet war, dazu die Pressespiegel, und fuhr hinauf ins vierte Geschoß. Wegweiser zum Büro waren mir die Gemälde und Grafiken, die noch aus ZK-Zeiten an den Wänden hingen. Als nächstes: die Post sortieren; auch mancher, der die VL-Adresse im Haus der Demokratie nicht kannte, wandte sich an Th. Denn er hatte als einziger von uns in der Öffentlichkeit einen Namen, er war sozusagen unser Gesicht. Dann die Hauptarbeit: telefonieren, telefonieren und nochmals telefonieren. Zwischendurch ein Gang quer über den großen Platz zu Th. im Haus der Volkskammer, um die Post abzuliefern, kurz dies und jenes zu besprechen. Beraten habe ich ihn wohl nur ein Mal: Ich empfahl ihm vor seiner ersten Plenarrede, auf Fremdwörter wie „marginal“, die man im Osten kaum nutzte, zu verzichten. Was er auch tat.

3.
In unserem Büro war ich meist allein. A. ließ sich nicht mehr blicken; war er nur für die ersten Wochen eingestellt worden, oder war die Arbeit ohne Titel – wir hatten ihm natürlich verboten, weiter als parlamentarischer Geschäftsführer aufzutreten – reizlos für ihn? H. hingegen fuhr viel im Lande herum; anfangs war der Volkskongreß sein Feld gewesen, unser erstes politisches Großvorhaben. „Ein Volkskongreß bietet die Möglichkeit in kürzester Zeit in demokratischer Weise zu notwendigen Entscheidungen der gesellschaftlichen Entwicklung beizutragen und den Parteien für den Wahlkampf Orientierungen des Volkswillens zu geben“, hatte die VL am 9. Dezember 1989 erklärt. Doch die Idee kam zwei Monate zu spät, in revolutionären Zeit ist das viel. Im Oktober hätte so ein Aufruf sicherlich Debatten befördert und, wichtiger noch, eigenständiges Handeln. Inzwischen aber war das ganze Land eine einzige große Kongresshalle. Und dann dieser Verweis auf den Volkswille, narodnaja volja… An alte Plakate erinnert mich das, auf denen ein riesiger Arbeiter zwergenhaften Figuren, dicken Kapitalisten mit Zigarre und knochigen Generälen, lächelnd einen Stoß versetzt, dass sie alle durcheinanderpurzeln. Der Aufruf war eben zehn Tage in der Welt, da wurde Kohl in Dresden bejubelt wie nie zuvor in seinem Leben. Was also hätte bei diesem Kongreß herauskommen können?
Aber waren denn die Dresdner Kohl-Jubler repräsentativ, könnte man fragen, ist die Stimmung nicht erst sechs, acht Wochen später in Richtung Einheit umgeschlagen? Ein Umfrageergebnis aus den ersten Dezembertagen zeigt schon damals eine nur knappen Mehrheit der Einheitsgegner; die Vereinigung werde kommen, sagten die meisten meiner Freunde, und Bahro sagte es am 10. Dezember in der Vollversammlung der VL Berlin. Zwei Tage darauf notierte ich mit Blick auf die Entwicklung im Lande: „Einen Moment lang schien es, die Hoffnung auf gesellschaftliche Selbstbestimmung könne Wirklichkeit werden, aber das ist nun schon wieder vorbei.“ Widerstand zu leisten war dennoch sinnvoll. Georg Forster: „Wenn wir nicht thäten, was wir thun können, ginge alles noch viel bunter über Eck.“ Doch beim Opponieren konnte uns ein Volkskongreß kaum helfen. H. richtete trotzdem ein Büro dafür ein, wandte viel Zeit und Kraft an das Vorhaben, bis es irgendwann klammheimlich beerdigt wurde. Auf Achse blieb er dennoch, immer in Angelegenheiten, die hochwichtig, nun aber streng geheim waren. Auch über die Gruppe demokratischer SozialistInnen, als deren Sprecher er im Herbst ’89 aufgetreten war, hat er nie etwas verlauten lassen. Vielleicht war außer ihm nur noch seine Freundin mit dabei, die bei uns als Honorarkraft arbeitete.
Mystifizierungen gehörten allerdings zum Geschäft: Ob sich die Urheber der Böhlener Plattform vom 4. September 1989 tatsächlich an diesem Tag zusammengefunden hatten, ist nicht mehr zu klären; auf alle Fälle war es in einem kleinen Ort in der Nähe von Bautzen. Nun gut, „Böhlen“ klang eben richtig proletarisch, wie B. einmal bemerkt hatte, neben Th. der zweite Hauptautor des Papiers, zudem galt es damals noch, die Organe irrezuführen. Neben Marxisten und Christen, heißt es gleich zu Beginn des Textes, hätten sich auch Mitglieder der SED beteiligt – das hört sich nach großer Runde an, tatsächlich war man nur zu fünft. Immerhin waren zwei SED-Mitglieder darunter, das rechtfertigt den Plural. Wichtig war diese Nennung auf alle Fälle: Sie verhieß, dass sich die VL als Gruppe an keine Weltanschauung bindet, sondern geeint ist durch die Grundziele. Das war etwas Neues in der sozialistischen Bewegung hierzulande. Zwar wurde in der Plattform auch die „radikale Erneuerung theoretischen Denkens auf marxistischer Grundlage“ gefordert, was dazu nicht so recht passt, aber es ist anscheinend niemandem aufgefallen, und so stießen neben nichtleninistischen Marxisten und Vertretern der IV. Internationale – wie H. zum Beispiel – tatsächlich Christen, Sozialisten, die sich durch nichts weiter definierten, und Autonome zur VL.
Zumindest einer der Gründe von H.s Reiselust wurde im Laufe des Sommers deutlich: Er hatte Unterstützer eines Aufrufs der „revolutionären Fraktion“ in der VL gesucht, „Für Einheit und Klarheit“, von uns Berlinern spöttisch „Für Einheit und Reinheit“ genannt. Den orthodoxen ML hatten die Revolutionäre darin dem nichtrevolutionären Rest der VL als geistige Grundlage empfohlen; vier große Basisgruppen, so behauptete H., hätten ihn unterschrieben. Doch wurde bald klar, dass nur zwei wirklich zugestimmt hatten. H. bekam Ärger im DDR-Sprecherrat; kritisiert wurde auch, dass er seine Anstellung für Fraktionsarbeit nutze. Obendrein stellte sich heraus, dass der VL-Stempel im Sozialversicherungsausweis seiner Freundin von ihm statt von unserem Berliner Geschäftsführer stammte. Das gab noch mehr Ärger, und Anfang September trat H. aus der VL aus und verließ damit auch das Arbeitssekretariat; die VL, erklärte er, sei zu sehr aufs Parlament fixiert.
Die deutsch-deutsche Staatseinigung rückte derweil rasch näher. In der ersten Juliwoche hatte man in Ost und West beschlossen, den nächsten Bundestag am 2. Dezember gesamtdeutsch zu wählen, und zwar 1990, nicht etwa erst 1991. Ähnlich wie im Herbst ’89 ging alles viel schneller als anfangs gedacht, aber in anderer Richtung diesmal. Im späten August hieß es dann: deutsche Einheit zum 3. Oktober, drei Tage vor meinem 41. Geburtstag und vier vor dem 41. der DDR, dem Staatsfeiertag. Orden wären ohnehin nicht mehr verteilt worden.

4.
Der Einigungstermin war für uns kein Thema, die Wahl war es um so mehr. Jedenfalls in der VL Berlin, der größten Gruppe im Lande. Dabei hatten wir noch gar nicht die Pleite vom 18. März analysiert, konnten also nicht einmal sagen: „Nimm mich so, wie ich bin, ich seh’ all meine Fehler ein, doch anders kann ich nicht sein!“ (Drafi Deutscher 1966). Mit sozialistischen Zielen, das hatten wir schon früh erkannt, waren allenfalls 20 % der Wählerschaft zu erreichen, und ein beträchtlicher Teil davon würde PDS wählen. Aber dass nur 0,2 % unseren Dritten Weg gehen wollten, verlangte nach Erklärung (ich sage „unseren Dritten Weg“, weil es mindestens zwei gibt, wenn nicht gar drei, vier oder noch mehr). War der Wahlkampf verunglückt? Immerhin hatten wir witzige Plakate geklebt, unverwechselbar, alles in Schwarz und Rot. Die dümmste Wahlkampagne hatten die Sozialdemokraten geliefert; im Prenzlauer Berg waren sie mit einem Lautsprecherwagen herumgefahren: „Liebe Birgerinnen und Birgor, hier schbrichd die Sozioldemogrodische Borrdei…“ – in entsetzlichem Leierton. Trotzdem kamen auf einen VL-Wähler 125 der SPD. Oder hatte die Böhlener Plattform abschreckend gewirkt? Man konnte sie durchaus als harte Prüfung all jener verstehen, die an uns interessiert waren: zehn Schreibmaschinenseiten lang und gemeinem Volke unverständlich – nur wird den Text kaum jemand gelesen haben. Am ehesten kamen wir noch bei denen an, die um die 20 waren. Als ich einmal, den Sticker am Hemd, mit der S-Bahn Richtung Zoo fuhr, mir gegenüber zwei junge Mädchen, hörte ich die eine der anderen zuflüstern: „Der is inna VL.“ Vereinigte Linke, das war etwas Exotisches, Abenteuerliches, ein bisschen Verrücktes sogar, das Salz im Einheitsbrei der Politik. Doch welches Bild hatte der große Rest der Gesellschaft von uns – und warum? Hatte es eher mit unserer sozialistischen Orientierung, mit unseren Äußerungen und eventuellen Fehlentscheidungen zu tun oder mit etwas, worauf wir kaum Einfluß hatten und das man vielleicht als Habitus bezeichnen könnte? Diese Fragen haben wir in der VL Berlin meines Wissens damals nicht einmal gestellt und auch später nur unzureichend beantwortet – ein erstaunlicher Mangel an Selbstreflexion angesichts des hier versammelten Geistespotentials. Die Sozialstruktur der VL, die wahrscheinlich manches hätte erklären können, haben wir meines Wissens nie untersucht, und jetzt, im nachhinein, dürfte das auch schwierig sein. Auf alle Fälle fehlte die Arbeiterschaft fast völlig.
Die Berliner VL hatte im Januar mit großer Mehrheit beschlossen, sich der Wahl vom 18. März zu stellen; ich war, als einer von ganz wenigen, dagegen gewesen. Th. nahm es mit erstaunt hochgezogenen Augenbrauen zur Kenntnis. Die Berliner Gruppe, so hatte ich gedacht, saß an sämtlichen Runden Tischen, die in der Stadt zu haben waren, und in fast allen Arbeitsgruppen dieser Tische obendrein. Und dazu noch Wahlkampf – war nicht eigentlich etwas anderes zu tun? Mit Blick auf die Dezemberwahlen war Überforderung allerdings kein Argument mehr, großen Arbeitsaufwand würde uns niemand mehr abverlangen. Klar war: Dort allein oder im Verein mit anderen Kleinorganisationen anzutreten lohnte nicht, „rechnete sich nicht“, wie man neuerdings sagte. Im Mai, bei den Wahlen zum Ost-Berliner Stadtparlament, war so ein Bündnis, die Alternative Linke Liste, auf 0,8 % gekommen.
Zwischen drei Möglichkeiten konnten wir wählen: Linke Liste der PDS, Bündnis mit den Bürgerbewegungen oder, was mir am liebsten gewesen wäre, Verzicht auf Kandidaturen. Masse konnten wir keine einbringen. Wie ein bezahlter Hochstapler komme er sich bei Verhandlungen vor, erklärte unser brandenburgischer Landesgeschäftsführer damals im DDR-Sprecherrat. Eigentlich sei die VL nur ein Mythos, sagte ich einmal zu B. Aber diesen Mythos brauchen wir, meinte er darauf. Wirksam war er aber nur in einer Richtung: Die VL lebte in nicht unbeträchtlichem Maße vom schlechten Gewissen der PDS. Denn wir, jedenfalls die Älteren unter uns, hatten bekanntlich schon immer gesagt, dass…! Und hatten dafür einiges auf uns genommen: Th. war anderthalb Jahre in Haft gewesen, andere, darunter B. und später auch ich, hatten aus politischen Gründen den Arbeitsplatz verloren. Die PDS-Führung brauchte uns daher als Feigenblatt, um so mehr, als wir, wie es im ND hieß, den „Idealen des Herbstes treu“ geblieben waren und sie sich nun als deren Hüterin profilieren wollte: „Im Herbst 90 für einen Frühling der Ideale vom Herbst 89“.
Vielen vom Bündnis 90 hingegen war die VL suspekt: Sie war die einzige Bürgerbewegung mit sozialistischem Programm, obendrein nahm sie, das hat auch etliche Linke gestört, SED-, später PDS-Mitglieder auf. Ein missbilligendes Erstaunen ging Wolfgang Ullmann von „Demokratie jetzt!“ übers Gesicht, als er einem Mit-VLer und mir, beide den schwarz-roten Anstecker am Hemd, auf der Treppe im Haus der Demokratie begegnet: „Was, die gibt’s immer noch?“ Es war auch gar nicht sicher, dass VL-Kandidaten auf der Bündnis-Liste mehr Wählerinnen und Wähler anziehen als verprellen würden. Zum Zuge kamen wir vermutlich nur dank dem Einfluß der Linken im NEUEN FORUM und B.s Verhandlungsgeschick.
Beide Listenoptionen hatten in der VL etwa gleich viel Anhänger, eine Minderheit lehnte Kandidaturen überhaupt ab, aus pragmatischen Gründen oder aus Antiparlamentarismus. Da wir uns nicht einigen konnten, trat die VL als Organisation nicht an, doch wer wollte, konnte auf der Liste seiner Wahl kandidieren. Für die Linke Liste ließ sich unter anderem Th. aufstellen. Das war mir schon damals unverständlich; auch er selbst hat sich später kritisch dazu geäußert. Sogar mit der Gesamt-VL hinter sich hätte er das Verhalten der PDS nicht merklich beeinflussen können. Auch meine Hoffnung, mit langen Erörterungen im ND auf Parteimitglieder einwirken zu können, war wahrscheinlich eine Illusion.
Und die Einigung der – aus unserer Sicht – emanzipatorischen Linken? Sie war ja weiter unser Ziel, nicht mehr im Sinne einer Organisationseinheit unter dem Dach der VL, sondern eines Arbeitszusammenhanges. Wir konnten dafür um so eher werben, als wir durch Verzicht auf eine allein seligmachende Basisideologie auch den leninistischen Sektenkämpfen den Boden entzogen hatten – anders wäre die VL gar nicht lebensfähig gewesen. Eine Hallenser PDSlerin schrieb damals, sie habe es im Herbst 89 in der SED nicht mehr ausgehalten und sei zur VL gegangen; dort habe sie viel gelernt, auch für den Umgang unter Linken. Zwar gab es Auseinandersetzungen von Anfang an, doch wurde dabei meist rational argumentiert und auf Verdammungen verzichtet: Begriffe wie „Renegat“ und „Clique“ waren bei uns nicht üblich. Nur die Freunde der Einheit und Klarheit blieben dem Stil des „Kurzen Lehrgangs“ treu und wollten noch immer irgendetwas zerschlagen. Auch der Streit um die Wahlkandidatur verlief sachlich. Als ein Cottbuser VLer später in seiner Gruppe bekannte, am 2. Dezember Linke Liste gewählt zu haben, hieß es zwar: „Iiii, Lilli-Wähler…“, aber das war schon das Maximum. Wie es sich auf die Einigung der Linken ausgewirkt hätte, wenn wir so oder so als Ganzes angetreten wären, und was diese Einzelkandidaturen in der Hinsicht bewirkt haben, kann ich nicht einschätzen.
Was auch geschah, ich ging weiter meiner Hauptbeschäftigung nach und telefonierte. Doch ist mir von den vielen Ferngesprächen nur eines in Erinnerung geblieben, das mit dem Sprecher der Arnstädter VL. Ich hatte erst spät erfahren, dass es sie überhaupt gab, und sie war schwer zu erreichen, hatte kein eigenes Büro. Vom NEUEN FORUM mehr befehdet als von der CDU, hatte sich da eine Gruppe sehr junger Leute zusammengefunden. Gerade für Jüngere, und es gab viele Jüngere bei uns, war die VL-Arbeit ein guter Einstieg in linke Politik, ein viel besserer, als ihn im Westen einst K-Parteien und DKP geboten hatten.

5.
Inzwischen waren die letzten Tage der DDR gekommen. In der Volkskammer wurde der Einigungsvertrag debattiert, auch Th. kam zu Wort. Er sprach vom Opportunismus der einstigen Blockparteien (geißelte ihn, wie man früher gesagt hätte), von den Hoffnungen des Volkes, das sich die Demokratie erkämpft hatte, von den Profiteuren der Einheit, die im Westen saßen, und den Verlierern im Osten, die nicht alles hinnehmen würden: „Wenn Arroganz und Selbstherrlichkeit jedes Maß verlieren, wird sich jede Regierung dem außerparlamentarischen Protest der Straße ausgesetzt sehen.“ Doch das geduldig hoffende Ost-Volk blieb der Straße fern und protestierte auch nicht per Stimmzettel: Zwar verlor die CDU bei den Wahlen vom 2. Dezember an Stimmen, doch SPD und PDS ging es ebenso, die PDS brach sogar regelrecht ein. Am 20. September hatte der Vertrag mit großer Mehrheit das Parlament passiert, in einem Westmedium hieß es, sogar Th. habe dafür gestimmt. Er gab mir darauf die beiden Karten, die er in dem Falle nicht gebraucht hatte, die blaue für Stimmenthaltung und die weiße Ja-Karte. Zusammen mit anderen Relikten (oder Reliquien?) aus jener Zeit, dem Telefonverzeichnis („Nur zur persönlichen Verwendung!“), einigen Schreiben der Verwaltung, zwei Essenmarken, liegen sie nun in meinem Vertiko.
Am 2. Oktober hatte ich bis zum Abend im Büro zu tun. Die Volkskammer tagte zu der Zeit nicht mehr drüben im Palast, sondern im Haus der Parlamentarier; die Stasi-Tätigkeit von Abgeordneten war ihr letztes Thema. Die Medien und selbst wir Mitarbeiter mussten draußen bleiben; irgendwie kam ich aber doch an eine Besucherkarte. Auch sie habe ich aufbewahrt. Es war gegen neun, halb zehn, im halbdunklen Plenarsaal herrschte Chaos: Antrag, Gegenantrag, Ergänzungsantrag, Antrag zurückgezogen… Eine Viertelstunde reichte mir, ich fuhr nach Hause und legte mich ins Bett. Am nächsten Morgen erwachte ich als Bürger der Bundesrepublik Deutschland. In der Presse hatte man uns alle, oder bilde ich mir das nur ein?, zuvor noch beruhigt: Die Umwandlung sei völlig ungefährlich, würde nicht einmal unseren Schlaf stören, und wir würden sogar unsere alten DDR-Gesichter behalten. So war es auch. Nur ein leichter, höchstens einmal mäßiger, dafür aber lang anhaltender Seelenschmerz war mir von der Prozedur geblieben: Ich war ja nicht bloß ohne mein Zutun, sondern gegen meinen ausdrücklicher Willen zum Bundesbürger geworden.
Unser Büro im Haus der Parlamentarier – oder hieß es jetzt ehemaliges Haus der Parlamentarier? – hatten wir bald geräumt; von den Schreibblöcken, die A. geordert hatte, zehrten wir noch mehr als ein Jahrzehnt. Die vielen dicken Aktenordner aus Th.s Büro dagegen landeten, weil der Abtransport sich verzögerte, im November allesamt im Müll. Verantwortlich dafür war der Verwaltungsdirektor; Niggemeyer hieß er und war zu DDR-Zeiten im CDU-Parteivorstand Mitglied des Präsidiums und Sekretär für Agitation gewesen.
Zu jener Zeit begann die VL bereits zu zerfallen. Zwar hatte sie mit ihren Warnungen vor den Einheitsfolgen Recht behalten, doch konnte sie, wie Th. einmal bemerkte, davon nicht profitieren: Die Gruppen verloren an Mitgliedern, kamen nur gelegentlich noch zusammen oder stellten die Arbeit ein. Was die Themengruppen erarbeitet hatten, ist bis auf eine Ausnahme (2) nie dokumentiert oder gar bilanziert worden. Im Berliner Haus der Demokratie gaben wir Raum um Raum auf und siedelten zuletzt in ein kleines Büro im Zwischengeschoß über. Auch unsere Stadtbezirksgruppe Prenzlauer Berg, im Herbst 1990 erst entstanden, hielt nicht lange durch. Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk schrieb irgendwo einmal, bei uns im Prenzlauer Berg habe sich ihm der menschenverachtende Charakter der VL offenbart. Wie das? Er war doch nur kurz dabei, zweimal hat er bei mir seinen Mitgliedsbeitrag entrichtet. Vor allem aber: Wir sind nie tätig geworden – saßen herum und rätselten, wie wir uns nützlich machen könnten, aber es fiel uns nichts ein. Bloß zum Quatschen treffen wollten wir uns auch nicht, und so war schon im Frühsommer 1991 Schluß. Vielen anderen Gruppen ging es wahrscheinlich ebenso. Die Vorbereitung auf die Volkskammerwahl vom 18. März hatte die VL zum ersten und letzten Mal geeint. Der Gesellschaft, in die sie dann im Herbst hineingeraten war, gemeinsame Vorhaben entgegenzusetzen hat sie nie geschafft. Das Problem wurde meines Wissens aber kaum diskutiert (von ein paar Ansätzen beim Dresdner Arbeitstreffen einmal abgesehen), weder in Berlin noch in der Gesamt-VL. Der Zusammenhang zwischen den Gruppen lockerte sich, die übrig gebliebenen arbeiteten jede für sich: Wir in Berlin wurden allmählich zum Bildungszirkel und beschäftigten uns vor allem mit der Geschichte der Arbeiterbewegung, die Hallenser engagierten sich unter anderem beim örtlichen Freien Radio, die Leipziger Gruppe war eng mit der Hausbesetzer-Szene verbunden – oder mit der dortigen Friedensbewegung? 1992 oder ’93 kam der zentrale Sprecherrat letztmals zusammen. Das Internet, das uns vielleicht als Forum hätte dienen können, war zwar schon erfunden, doch Anschluß hatten nur wenige. Auch die linke Zeitschrift, die B. hatte gründen wollen, hätte so ein Forum werden können. Die subjektiven Voraussetzungen brachte er mit – als Kommunikator und als Kenner der linken Szene wie der Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung. Was fehlte, war das Startkapital. Als wir uns bei jemandem aus der Mediengruppe in der Prenzlauer Allee verabredet hatten, um noch einmal über Titel, Konzept und dergleichen zu sprechen, warteten wir vergebens auf B. Nach einer dreiviertel Stunde ging ich und traf ihn frierend auf dem großen, dunklen Hof. Er hatte vergessen, welcher Aufgang der richtige war, und gehofft, jemand würde kommen und ihn mitnehmen. Wir gaben die Sache dann auf. 1995 hatte ich in unserem Infoblatt Vau Ell vorgeschlagen, gemeinsam über Handlungsstrategien nachzudenken, aber die Reaktion war gleich Null. Es war schon zu spät.
Dieses Unvermögen war, so denke ich, ein erster Grund für den Untergang der VL. Ein zweiter war, dass ihr – sehr zum Schaden der revolutionären Phantasie – in der Gesellschaft die Partner abhanden kamen. Wir haben mit unseren Vorhaben überhaupt nur wenige Male einen größeren Kreis außerhalb der VL ansprechen können. Die Bunte Republik Neustadt, ein Dresdner alternatives Kulturfest, war so ein Beispiel. Politisch wichtiger noch war die republikweite 1. Betriebsrätekonferenz im Werk für Fernsehelektronik in Oberschöneweide: Eingeladen von der Berliner VL-Betriebsgruppe, kamen am 3. Februar 1990 Leute aus etwa 70 Betrieben zusammen. Auch die Hallenser konnten in dem Bereich einige Zeit nach außen wirken. Eine zweite Konferenz wie die im WF gab es aber schon nicht mehr. Wer Gewerkschaft wollte, sprach beim DGB vor; das Gros der Wendeverlierer in den Betrieben, CDU-Wähler zumeist, sah auch ein, dass die neue Ordnung erst einmal Opfer verlangte: „Laßt ma, Leute, is ja nett, dassa uns helfen wollt, aba Weltriwweluzjon is jetz nicht…“ Und wenn’s nicht buttert, dann buttert’s eben nicht: Die MLPD hat mehr als zehn Jahre später durch Kundgebungen und Umzüge immer wieder versucht, die im Verebben begriffene Bewegung der neuen Montagsdemonstrationen am Leben zu halten – es wirkte nur noch peinlich. Unsere vielen Wahlaktivitäten waren, so denke ich heute, vielleicht nur ein unbewusster Versuch, sich angesichts unserer nicht eingestandenen politischen Schwäche, fehlender Wirkungsmöglichkeiten eine Ersatzaufgabe zu suchen – wenn die Steuererklärung dran ist, sieht man plötzlich die Staubflusen an der Decke. Auf alle Fälle hätten wir nur durch gemeinsame Unternehmungen – und damit meine ich nicht etwa Konferenzen und dergleichen – auch die Einigung der emanzipatorischen Linken fördern können, jener Linken, die sich nie mit den Herrschenden in der DDR gemein gemacht hatte.
Doch viel zu fördern war da bald nicht mehr. Unsere zwei Untermieter im Haus der Demokratie, der Bund revolutionärer Sozialisten, wie sich die DDR-Trotzkisten der Mandel-Richtung nannten, und die Alternative Linke, die sich von der Westberliner Alternativen Liste abgespalten hatte, zerfielen noch rascher als die VL. Sie hinterließen uns viel Papier. Die Vereinigte Sozialistische Partei, unser wichtigster Partner in der Bundesrepublik, schrumpfte zusehends und musste später den Status als Partei aufgeben, ihr Organ SoZ wurde vom Wochen- zum Monatsblatt. Ebenso verschwand das Sozialistische Büro, das uns als Verband undogmatischer Linker geistig nahe stand, doch sich nie für uns interessiert hatte. Einige Zeit bemühte sich die VL – so hatte ich es jedenfalls verstanden – um engeren Kontakt zur Ökologischen Linken um Jutta Ditfurth, B. verhandelte mit ihnen dies und jenes, doch ohne Ergebnis. Inzwischen weiß ich, dass B. nicht im Auftrag der VL, sondern aus eigenem Antrieb den Kontakt gesucht hat; anscheinend hatte ich damals noch den Spruch im Ohr: Wo ein Genosse ist, da ist auch die Partei. Im übrigen hätte uns die Ökoli auch nicht weiterhelfen können. Nothing to nothing gets nothing.

6.
Mit manchem aus der VL-Geschichte haben wir uns selbst schon kritisch auseinandergesetzt, anderes bleibt noch zu klären (wenn Klärung in solchen Dingen überhaupt möglich ist). Vielleicht treffen sich zuletzt – denn die VL steht vor ihrer juristischen Auflösung – einige von uns, um daran weiterzuarbeiten. Was anders gelaufen wäre, hätten wir uns anders entschieden, könnten wir natürlich nur mutmaßen. Und unsere Fehler – wer kann und will schon daraus lernen? Ist daraus überhaupt etwas zu lernen? Eine Situation wie im Herbst 1989 wird nicht wiederkehren, nicht einmal eine ähnliche. Gut möglich auch, daß man im politischen Kampf Organisationen nach Art der VL heute gar nicht mehr braucht. Trotzdem könnten wir zum Beispiel fragen: Hätten wir unsere Programmatik anders gestalten sollen? Oder unsere Organisation anders aufbauen müssen? Und vor allem: Wieso, verdammt noch mal, ist die PDS dick und fett geworden, während wir, die wir am entschiedensten die Lehren aus der Geschichte der Arbeiterbewegung und des Sozialismus gezogen zu haben meinten, von der Bildfläche verschwunden sind? In manchem ist es uns wie dem Unabhängigen Frauenverband gegangen, der uns auch politisch nahe stand: Mit großen Hoffnungen gegründet, hat er in der bundesdeutschen Organisationenlandschaft nie seinen Platz gefunden, auch kein starkes Westpendant, und sich nach langem Niedergang 1998 aufgelöst. Daß uns ein solches Pendant fehlte, mit dem – zum Beispiel – B.s Zeitschriftenprojekt hätte verwirklicht werden können, ist ein dritter Grund für die Schwäche und den schließlichen Zerfall der VL. Überlebt hat von den Bürgerbewegungen nur, wer Westanschluß fand, also die Grüne Partei und das Bündnis 90.
Demnächst werden sich die verbliebenen Mitglieder versammeln, um die zur Auflösung nötigen Beschlüsse zu fassen. Danach sollten wir zusammen essen gehen, natürlich auf Kosten der VL, ein bisschen Geld ist ja noch in der Kasse. Reden werden dabei sicherlich keine gehalten, aber vielleicht kommen wir darauf zu sprechen, was uns an der VL wichtig war, was uns weiter zusammenhalten wird und vor allem aktiv bleiben läßt. Ich könnte bei der Gelegenheit, fiel mir neulich ein, endlich mal wieder mein VL-Abzeichen anstecken. Ich fand es erst nach längerem, intensivem Nachdenken. Es sieht auch etwas anders aus, als ich es in Erinnerung hatte.

(1) Die Böhlener Plattform und andere VL-Texte aus jener Zeit finden sich in: Die Aktion. Heft 60/63; Hamburg, Januar 1990.
(2) Bernd Gehrke/ Renate Hürtgen (Hrsg.): Der betriebliche Aufbruch im Herbst 1989: Die unbekannte Seite der DDR-Revolution. Diskussion – Analysen – Dokumente. 2., korrigierte Aufl., Berlin 2001.

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