Am 8. Dezember 1987 wurde der INF-Vertrag unterzeichnet. Auf seiner Grundlage wurden über 2.500 nukleare Trägersysteme der Typen Pershing II und GLCM, SS-12, SS-4, SS-5, SS-20 und SS-23 vernichtet. Die USA und die Sowjetunion verpflichteten sich, keine neuen landgestützten atomaren Mittelstreckenwaffen zu entwickeln, zu produzieren oder gar zu stationieren. Es war der erste Schritt zu einer wirklichen Verminderung der nuklearen Arsenale in Ost und West, nicht zuletzt der Erfolg einer Friedensbewegung, die in den achtziger Jahren die Legitimität von Kernwaffen gründlich untergraben hatte.
25 Jahre danach diskutierte ein Workshop in Berlin die Geschichte und die Zukunft von Kernwaffen in Europa. Die Stiftung Haus der Demokratie und Menschenrechte, das Berliner Informationszentrum für transatlantische Sicherheit und das Luftfahrtmuseum Finowfurt hatten zu einer Diskussion eingeladen: Kernwaffen in Europa – Lernen von der Vergangenheit für die Zukunft. Dabei trafen sich am Wochenende des 3. und 4. November 2012 im Berliner Haus der Demokratie und Menschenrechte manche Leute, die sonst eher wenig miteinander zu tun haben: Friedensbewegte und Diplomaten, Sozialwissenschaftler und ehemalige Offiziere, Menschen, die in Ost oder West für Atomraketen zuständig waren – und solche, die gegen sie demonstrierten.
Es ist höchste Zeit für einen Rückblick auf das historisch erste Beispiel eines wirklichen Abrüstungsvertrages. Denn nach dem Erfolg des INF-Vertrages folgten zwar 1990 der Vertrag über die konventionellen Streitkräfte in Europa (KSE), 1991 das START-Abkommen über die interkontinentalen Waffen und die einseitigen, aber umfangreichen Reduzierungen substrategischer Nuklearwaffen im Rahmen der Presidential Nuclear Initiatives. Doch dann wurde Schritt für Schritt eine neue Runde konventioneller Rüstungen begonnen, und um die nukleare Abrüstung wurde es still. Trotz weiterer Reduzierungen, zuletzt im New START Vertrag von 2010, und trotz wiederholter Bekenntnisse zur Vision einer kernwaffenfreien Welt bestehen sowohl die USA wie auch Rußland auch 20 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges auf der Fortführung ihrer nuklearen Arsenale. Nach wie vor werden die Atomkriegspläne des Kalten Krieges fortgeschrieben.
Immerhin gibt es heute Zweifel, ob die Nuklearwaffen der beiden Großmächte noch ausreichen, bei ihrem Einsatz die ganze Menschheit auszulöschen. Doch allein im Bereich der strategischen Nuklearwaffen, die vom New Start Vertrag erfasst sind, verfügten die USA im September 2012 über 806 stationierte Kernwaffenträger mit 1722 Nuklearsprengköpfen, Rußland über 491 stationierte Trägersysteme mit 1499 Nuklearsprengköpfen. Die sogenannten substrategischen Nuklearwaffen kürzerer Reichweite, die noch immer von keinem Abrüstungsvertrag erfaßt werden, sind in dieser Zahl nicht enthalten. Über ihre Anzahl gibt es keine offiziellen Angaben, weder im Osten noch im Westen. Geheimhaltung war schon immer ein zentrales Element der Nuklearpolitik. Und dann sind da noch die tausenden Kernsprengköpfe, die nach den Abrüstungsschritten der letzten Jahre eingelagert, aber noch nicht zerlegt wurden. Auch 20 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges sind die USA und Rußland die unangefochtenen Nuklearmächte – und die Frage nach dem Ende der nuklearen Rüstungen ist offen. Gerade in Europa stehen in den nächsten Jahren Entscheidungen an: über die Modernisierung oder die Abrüstung von Kernwaffen.
Grund genug, sollte man meinen, sich mit den Kernwaffen, ihrer Kontrolle und ihrer möglichen Beseitigung zu befassen. Der Workshop bewies mit lebhaften Diskussionen und manchen überraschenden Einsichten die Aktualität des Themas. Auf diese Einsichten und Überraschungen hinzuweisen, ist Ziel des nächsten Artikels. Vor die Freuden der Realisierung aber waren die Mühen der Vorbereitung gesetzt. Diesen Mühen ist der dritte Artikel gewidmet. Er wirft dabei auch einige Fragen auf, die in der Vorbereitung eine große Rolle spielten, am Ende aber auf dem Workshop kaum thematisiert werden konnten: über die Möglichkeiten und Grenzen der Friedensbewegung, die Kosten der Kernwaffen und den Einfluß weltpolitischer Veränderungen auf den sicherheitspolitischen Diskurs. Denn manche kluge Idee aus den achtziger Jahren hat seit dem Ende des Kalten Krieges zwar nicht an Bedeutung, wohl aber an Anhängern verloren. Diese Fragen erörtert der vierte und letzte Beitrag.
Kurz vor Beginn des Workshops kam von unerwarteter Seite ein Hinweis auf die Notwendigkeit eines Neuanfangs in der öffentlichen Debatte in der Bundesrepublik. Gregor Gysi berührte in einem Interview für die Internetseite der LINKEN-Fraktion vom 30. Oktober beiläufig, aber deutlich die Frage der Kernwaffen in der heutigen Welt:
„Der Kalte Krieg ist zwar überwunden, aber Kriege und Konflikte haben seitdem zugenommen, was auch damit zusammenhängt, dass die beiden großen atomaren Supermächte nicht mehr die Spielregeln und die Aufteilung der Welt in Einflusssphären bestimmen. Aber die großen Konflikte und Herausforderungen sind geblieben: die Gefahr der Weiterverbreitung von Kernwaffen, der Kampf um weltweite Ressourcen und Rohstoffe, die Konflikte zwischen ärmeren und reicheren Ländern und eine Reihe regionaler Konfliktherde, die immer auch die Gefahr der Eskalation in sich bergen. Und die ökologische Frage, die sich nur sozial beantworten lässt.“
Eine sehr klare Position: Nicht die existierenden Kernwaffenarsenale der Großmächte, sondern die „Weiterverbreitung von Kernwaffen“ zählt für den Vorsitzenden der LINKEN-Fraktion zu den „großen Konflikten“. Denn solange die beiden großen atomaren Supermächte die Spielregeln bestimmt haben, war noch alles einigermaßen, nun ja, geregelt. Von der atomaren Abrüstung der Großmächte ist keine Rede. Und das, obwohl Gregor Gysi der Politikergeneration angehört, für die die Auseinandersetzung um die nukleare Aufrüstung der achtziger Jahre zweifellos zu den prägenden Erfahrungen zählt. Und obwohl heute selbst Mr. Obama zuweilen von „Global Zero“ spricht. Im politischen Alltagsgeschäft dieser Republik und ihrer Medien spielt die Diskussion um Kernwaffen nur eine marginale Rolle. Das muß sich ändern, sonst werden die Eliten in Politik und Militär die weiteren Entscheidungen über Waffen ungeheurer Zerstörungskraft allein und ungestört treffen können.
Die Serie
Der Workshop: Themen und Positionen. 25 Jahre INF-Vertag, Teil 2
Ein unwahrscheinlicher Erfolg. 25 Jahre INF-Vertrag, Teil 3
Es geht um mehr. 25 Jahre INF-Vertrag, Teil 4