Alte Lügen und aktuelle Analysen zur DDR und dem 13. August 1961. Teil 4
In den politischen Auseinandersetzungen des Jahres 1961 wie in den späteren Debatten zum Bau der Berliner Mauer spielte die Frage nach der Kriegsgefahr in Europa eine zentrale Rolle. Bis heute kommt keine Verteidigung der Mauer ohne Hinweise auf die Kriegsplanungen des Westens aus. In entschlossener Umkehrung der Chronologie wird ein Satz aus dem Leitartikel des Düsseldorfer „Industriekurier“ vom 2. September 1961 immer wieder als Bestätigung der westlichen Angriffspläne zitiert: „Eine Wiedervereinigung, wie sie sich jeder deutsche Patriot erträumte – eine Wiedervereinigung mit Girlanden und wehenden Fahnen und siegreichem Einzug der Bundeswehr durchs Brandenburger Tor – eine solche Wiedervereinigung wird es auf absehbare Zeit nicht geben.“ Und zweifellos, der Satz läßt tief blicken. Aber dieser Abgesang auf die Träume der Bundesregierung und des deutschen Kapitals von einer „Befreiung der Soffjet-Zone“ ist alles andere als ein Beleg für einen 1961 bevorstehenden westdeutschen Angriff. Schon deshalb nicht, weil Berlin sicher im Sommer ’61 einer der wichtigsten Brennpunkte der Weltpolitik war, die Weltpolitik aber nicht in Berlin gemacht wurde. Der entscheidende weltpolitische Konflikt des Kalten Krieges bestand zwischen der Sowjetunion und den USA. Auch über den Einsatz der Bundeswehr wurde nicht einsam im Bonner Verteidigungsministerium entschieden. Wie aber sah es 1961 mit den politischen Positionen und militärischen Plänen der USA für den großen Konflikt mit der Sowjetunion aus?
Als Einführung in dieses schwierige Feld können die Erinnerungen eines Zeitzeugen dienen, der wie kaum ein anderer nicht nur tiefe Einsichten in die US-Kriegsplanungen hatte, sondern aus diesen Einsichten auch klare politische und moralische Schlußfolgerungen gezogen hat: Daniel Ellsberg, damals ein junger Mann, der am 7. April 1961 gerade erst 30 Jahre alt geworden war.
Ellsberg konnte bereits auf eine beeindruckende Karriere verweisen: Er hatte 1952 in Harvard seinen Bachelor of Science in Wirtschaftswissenschaften mit summa cum laude abgeschlossen, in Cambridge (Mass.) seine Studien fortgesetzt und war 1954 zum US Marine Corps gewechselt, wo er die Offiziersausbildung als bester seines Jahrgangs beendete. Nach den Marines ging er 1957 wieder nach Harvard, wo er sich weiter mit den gerade modernsten Methoden der Ökonomen, der Spieltheorie befasste. Im Juni 1959 wechselte er zur RAND Corporation und nahm dort an der Erstellung einer Studie über Organisation der Befehlsgewalt über die Atomwaffen im Bereichs des CINCPAC, des US-Kommandeurs Pazifik, teil. Admiral Harry D. Felt hatte den Leuten von RAND freien Zugang zu allen beteiligten Stellen eingeräumt. Ende 1960 gehörte er zu einer Gruppe, die die Überlebensfähigkeit des Führungssystems der US-Atomwaffen untersuchen sollte. Daniel Ellsberg war ganz oben im sicherheitspolitischen Establishment der USA angekommen. Im Frühjahr 1961 arbeitete er als RAND-Berater für das Verteidigungsministerium und den Nationalen Sicherheitsrat.
Er war damals weit entfernt von seiner Ablehnung der US-Außenpolitik, die er in der Auseinandersetzung mit dem Vietnamkrieg entwickelte. Er war noch nicht der Mensch, der durch die Veröffentlichung der Pentagon Papers über die Entstehung und Entwicklung der US-Einmischung in den Vietnamkonflikt der US-Politik wohl einen der schwersten Schläge versetzte, der sie jemals von innen getroffen hat. Wie tief die US-Eliten vom späteren Wechsel Ellsbergs auf die Seite der Friedensbewegung verunsichert waren, das machte Seymour Hersh am 9. Dezember 1973 in der New York Times deutlich: Er schrieb von der Furcht des Weißen Hauses, Ellsberg habe „die am besten gehüteten Geheimnisse über die Zielauswahl der Atomwaffen der USA enthüllt, die in einem hochgeheimen Dokument enthalten sind, der als Single Integrated Operational Plan, oder S.I.O.P. bezeichnet werde.“ Dies war die wohl erste öffentliche Erwähnung dieses Planes überhaupt.
Im Wissen um diesen Plan hatte Daniel Ellsberg im Frühjahr 1961 eine einfache Frage an die US-Militärführung, die Vereinigten Stabschefs (Joint Chief of Staff, JCS), formuliert : „Wenn ihre Pläne für einen allgemeinen Krieg wie geplant umgesetzt werden, wie viele Menschen werden dann in der Sowjetunion und China getötet werden?“ Er hatte diese Frage in der Annahme formuliert, daß kein noch so hoher US-Militär eine begründete Antwort geben könne – und daß eine ausbleibende, verspätete oder improvisierte Antwort die Selbstsicherheit der Militärführung zu erschüttern geeignet sei. Ihm war klar, daß nur eine Anfrage „von ganz oben“ zu einer Antwort führen würde. Er dachte dabei zunächst an den Verteidigungsminister. Am Ende stellte Robert Komer, Mitarbeiter im Nationalen Sicherheitsrat, die Frage an die JCS im Namen des neuen Präsidenten, J.F. Kennedy.
Und die Militärs antworteten prompt. Nach einer Woche zeigte ihm Komer die für die Augen des Präsidenten – „For President Eyes only“ – und seiner engsten Mitarbeiter bestimmte Antwort, eine Grafik. In seinem 2009 veröffentlichten Rückblick beschrieb er seine Reaktion so:
–
An diesem Tag, kurz nach meinem dreißigsten Geburtstag, sah ich, wie unsere Welt enden würde. Nicht die Erde, nicht – soweit ich damals wußte – alles menschliche Leben auf der Erde, aber die Zerstörung der meisten Städte und Menschen auf der nördlichen Halbkugel. (…)
Die senkrechte Achse war die Anzahl der Toten, in Millionen. Die horizontale Achse war die Zeit in Monaten. Der Graph war eine gerade Linie, beginnend im Moment Null der Zeitleiste mit der Zahl der Toten, die innerhalb weniger Stunden nach dem Angriff erwartet wurden – und aufwärts laufend bis zum Ablauf von sechs Monaten: ein willkürlicher Schlußpunkt für die Toten aufgrund von Verletzungen und dem Fallout.
Die niedrigste Angabe, ganz links, waren 275 Millionen Tote. Die Zahl am rechten Rand, nach sechs Monaten, waren 325 Millionen.
–
Ellsberg hatte sich geirrt. Die Generäle waren weder über die Frage in Verlegenheit geraten, noch über die Antwort: „Das war, neben der Antwort selbst, die eigentliche Überraschung.“ Weil der Text von Daniel Ellsberg aber darüber hinaus noch einige weitere Überraschungen und viele präzise Beobachtungen und Einschätzungen enthält, findet sich jetzt eine Übersetzung hier auf dieser Seite, ergänzt um einige Fußnoten des Übersetzers zu weiteren Forschungen und Dokumentenveröffentlichungen zur Geschichte der US-Nuklearstrategie bis 1961. Zusammen geben diese Texte eine erste Einführung in die Entwicklung der US-Kriegsplanungen und ihren Stand im Jahr des Mauerbaus.
Irgendwelche Zweifel an ihrer Aufgabenstellung zeigen die US Militärs in diesen Texten nicht: Es ging darum, die freie Welt gegen die aggressiven Sowjets zu verteidigen – auch wenn sie die Wahrscheinlichkeit eines sowjetischen Angriffs auf die USA für eher gering hielten und die eigene haushohe Überlegenheit als einzige echte Weltmacht allen Planungen zugrunde lag. Und in dieser Einschätzung des Kräfteverhältnisses hatten sie recht – auch gegen die Kritik der Demokraten an der Regierung Eisenhower nach dem Sputnik-Schock, die im „Gaithner-Report“ eine baldige Überlegenheit der Sowjetunion vorhersagten und den vermeintlichen „missile gap“ zum Wahlkampfthema Kennedys machten. Tatsächlich sah es anders aus: Gestützt auf eine ausführliche Analyse von Norris und Cochrane hat die Brookings Institution das reale nuklearstrategische Gleichgewicht in einer einfachen Grafik ausgedrückt: 1956 konnte die Sowjetunion theoretisch mit etwa 120 Atomwaffen die USA erreichen – die USA die Sowjetunion mit über 2100, 1961 beträgt dieses Verhältnis etwa 450 zu 3100.
Nur die USA waren in der Nachkriegszeit in der Lage, im gesamten Spektrum militärischer Mittel – vom „low intensity warfare“ bis zur Stationierung strategischer nuklearer Waffen – weltweit zu operieren. Sie konnten sich dabei auf eine Vielzahl von Verbündeten stützen, vor allem aber auf die US Air Force und die US Navy mit ihren Flugzeugträgergruppen, die selbst von den kontinentalen USA aus im Prinzip jeden Punkt auf der Erde erreichen konnten. Diese militärische Präsenz war Mittel und Produkt einer US-Wirtschaft, die in den fünfziger Jahren dem Militär alle technisch entwickelten Waffensysteme zur Verfügung stellen konnte. So stellte ein Kritiker der extensiven US Air Force Nuklearplanungen fest, zur Zeit – Februar 1957 – gebe es keine militärischen Grenzen für die Einführung neuer Atomwaffen, da die Air Force immer neue Ziele ausmacht und sich kaum für die Folgen des Waffeneinsatzes interessiert. Und es gebe de facto keine finanziellen Grenzen. Nur die technische Verfügbarkeit stelle noch eine Beschränkung der Air Force Planungen dar. Tatsächlich sank der Anteil der Militärausgaben am Bruttoinlandsprodukt nach dem Ende des Koreakrieges rasch (Gold 2005). Und dies obwohl den US-Streitkräfte mit der breiten Einführung von Wasserstoffbomben, der B-52 als neuem strategischen Bomber und von Raketensystemen großer Reichweite qualitativ neue Waffensysteme bereitgestellt wurden.
In dieser Situation hatten Kritiker innerhalb des US-Militärs keine Chance. Im Frühjahr 1960 – mitten in der Debatte um die strategischen Planungen – besuchte der Chef der Operationsabteilung der Navy, Arleigh Burke, das Seminar von Henry Kissinger in Havard und sagte unter anderem: „You very seldom see a Cowboy, even in the movies, wearing three guns. Two is enough.“ – Selbst in Hollywood tragen Cowboys selten drei Pistolen, zwei sind genug (Rosenberg 1983, 71). Doch in den Kontroversen um Planung eines Krieges gegen die Sowjetunion setzte sich die Air Force mit dem Strategic Air Command gegen Bedenken der Army und der Navy weitgehend durch (Rosenberg 1983). Daß im Falle eines solchen Nuklearkrieges Dutzende Millionen Zivilisten in der Sowjetunion und China getötet werden würden, war den Planern klar. Mehrfach hat Eisenhower intern sein Entsetzen über das Ausmaß der geplanten Zerstörung deutlich gemacht. Und er war als Militär wie als Präsident immer sicher, daß jeder ernsthafte konventionelle Konflikt mit der Sowjetunion in einen atomaren Krieg umschlagen würde. Zu Zweifeln an der Notwendigkeit der nuklearen Rüstung führte das nicht: Mit dem Ziel der Abschreckung wurden die vorhandenen Bedenken neutralisiert. Ob ein Atomkrieg noch die Fortsetzung von Politik sein könne, war dagegen nicht ausgemacht. Deshalb fragte z.B. Kennedy im September 61 sehr gezielt danach, ob er in jedem Moment einen nuklearen Konflikt zwischen der USA und der Sowjetunion beenden könne (Sagan 1987). Die Antworten haben ihn weder 1961, noch ein oder zwei Jahre später beruhigen können.
Sein Urteil über die US-Atomkriegsplanungen faßte Daniel Ellsberg später knapp zusammen: Es waren Pläne für „100 Holocausts“, vielfachen Völkermord.
Doch es blieben Pläne, und sie wurden, trotz aller Gefahren für das Gegenteil, nie ausgeführt. Das liegt nicht zuletzt daran, was diese Pläne nicht waren: Die Option eines Präventivkrieges gegen die Sowjetunion hatte zwar Anhänger, sie wurde jedoch immer wieder explizit ausgeschlossen (Rosenberg 1983). Nur wer – wie Greiner/Steinhaus (1980) – diese Selbstbindung der USA ignoriert oder als propagandistische Verschleierung ansieht, wird die Diskussion über einen atomaren Erstschlag weiter systematisch mit der Planung eines Präventivkrieg verwechseln. Tatsächlich waren Diskussionen über die militärischen Vorteile eines atomaren Erstschlags kein Monopol der amerikanischen Seite. Aber auch wenn sich die Militärs des SAC auch bei den immer umfassenderen Zielplanungen und der Beschaffung der entsprechenden Nuklearwaffen durchsetzen konnten und David Allan Rosenberg seine Studie über die Atomwaffen und die US-Strategiebildung als „essentially a study in the failure in regulation“ bezeichnete, eine Untersuchung über das Scheitern der (politischen) Regulierung: Die politische Autorität der zivilen Stellen in den Entscheidungen über den Einsatz der US-Streitkräfte war nicht erschüttert. Und selbst im US-Militär stellten sich nicht alle Generäle auf den Standpunkt des SAC.
Zweifellos war und ist die Idee verrückt, den weltpolitischen Status quo mit Mitteln verteidigen zu wollen, die im Falle ihres Einsatzes jeder Politik die Grundlage entziehen. Korrekt haben Menschen darauf hingewiesen, daß in der englischen Abkürzung des Begriffs für „gegenseitig garantierte Vernichtung“ – „mutual assured destruction“ = MAD ein tieferer Sinn steckt: Diese Politik ist „mad“ = „verrückt“. Trotzdem war sie nicht so verrückt, etwas noch ganz anderes mit Nuklearwaffen zu versuchen: Die USA haben nicht versucht, den weltpolitischen Status Quo der Blockkonfrontation mit atomaren Waffen zu ihrem Gunsten zu ändern. „Roll back“ ohne den Einsatz von Atomwaffen ist nicht friedlich – aber ein „Roll back“ mit Atomwaffen wäre etwas ganz anderes gewesen.
Nichts macht dies deutlicher als Ellsberg Kritik, daß die USA mit der Strategie der Abschreckung einen Weg beschritten hatten, den sie gar nicht mehr selbst kontrollieren konnten: „Die amerikanische Verpflichtung zur Verteidigung der NATO – mit Berlin als dem empfindlichsten Punkt – mit atomaren Drohungen, wenn nötig, mit einem strategischen nuklearen Erstschlag, legte den Sowjets praktisch den Auslöser für einen solchen US-Angriff in die Hand.“(Übersetzung, S. 5) Wohlgemerkt: Er spricht damit die US-Regierung nicht von ihrer Verantwortung frei, im Gegenteil: Angesichts der Folgen eines Atomkriegs ist ein „Die haben aber angefangen!“ für ihn kein Argument. Aber Daniel Ellsberg ging auch 2009 nicht davon aus, daß die US-Regierung zu Atomwaffen greifen würde, ohne das die Sowjetunion die Grenzen der Blöcke mit militärischen Mitteln in Frage stellt.
Er weiß, wovon er schreibt. Im Frühjahr 1961 setzen in der Kennedy-Administration Diskussionen über die Alternativen ein, die der US-Präsident in dem Konflikt mit der Sowjetunion überhaupt hat. Er selbst ist an der Formulierung der ersten Vorschläge beteiligt, die am Ende zum Konzept der „flexibel Response“ führen. Parallel verschärft sich die Berlin-Krise angesichts der wiederholten Ankündigung der Sowjetunion, bei ausbleibender Einigung mit den Westmächten und der Bundesrepublik einen Friedensvertrag nur mit der DDR zu schließen und dieser volle Souveränität – auch in den bis dahin allierten Luftkorridoren nach Westberlin einzuräumen. Damit wäre die Präsenz der Westmächte in Westberlin, die Zugehörigkeit Westberlins zur kapitalistischen „freien Welt“ in Frage gestellt worden. (Zu den Hintergründen der Entscheidungsbildung in Moskau und Ostberlin wie zu den praktischen Vorbereitungen siehe Teil 5 und 6). Damit standen die US-Regierung vor der Frage, wie sie auf eine neue Blockade Westberlins , insbesondere auch eine Blockade der Luftwege reagieren sollte (Kaplan 1983, Kapitel 20). Die Umsetzung des von Eisenhower noch im Dezember 1960 bestätigten SIOP war für die Berater des Präsidenten, den Verteidigungsminister wie für den Präsidenten keine realistische Antwort, da sie nur die Wahl zwischen „Selbstmord oder Kapitulation“ ließ (Kaplan 2001). Der „kalte Winter“, von dem Kennedy im Juli 1961 in Wien sprach, ergab sich präzise aus der Drohung Chrustschows, noch vor Jahresende einen Friedensvertrag mit der DDR zu unterzeichnen.
Deshalb machen sich im Sommer 1961 Berater und Militärs daran, die Möglichkeit einer „kontrollierten“ und stufenweisen Reaktion auf eine solche Blockade Westberlins auszuarbeiten. Sie gehen dabei einerseits von dem Monstrum der SIOP aus und reduzieren die Zahl der dort aufgeführten Ziele, andererseits wurden auch „symbolische“ Aktionen vorgeschlagen, darunter Machtdemonstrationen bis hin zum Einsatz einer Atomwaffe in einem weitgehend unbewohnten Gebiet, um die zivilen Schäden und damit das Risiko eines großen sowjetischen Gegenschlages zu vermindern.
Diese Planungen wurden auch nach dem 13. August fortgesetzt, da die Frage des Friedensvertrages und einer Blockade Westberlins noch immer offen war. Am 5. September legte Carl Kaysen, ein ziviler Berater, eine Übersicht der Optionen vor. Die Charakterisierung Fred Kaplan drückt den Widerspruch seiner Vorschläge genau aus: „It was a plan to wage rational nuclear war.“ – Der Plan einen rationalen Atomkrieg zu führen. Die Militärs – allen voran der Chef des JCS, Lyman L. Lemnitzer – hatten aber auch für solche Kritik am SIOP wenig übrig. Am 13. September stellte Lemnitzer dem Präsidenten ihren Atomkriegsplan vor (Sagan 1987). Doch er mußte erfahren, daß Kennedy eine ganze Reihe von Fragen hatte, die sie nicht zu seiner Zufriedenheit beantworten konnten. (First Strike Options and the Berlin Crisis. DOCUMENTS FROM THE KENNEDY ADMINISTRATION. National Security Archive Electronic Briefing Book No. 56) Die Militärs konnten weder große Verluste in den USA ausschließen, noch die kontrollierte Beendigung eines allgemeinen Atomkrieges zusichern. Der Chef des SAC, Thomas Power, versuchte genau deshalb Kennedy von den Vorteilen eines breiten, und nicht etwa dosierten Erstschlages zu überzeugen. Die Diskussion zog sich ohne ein endgültiges Ergebnis über die folgenden Wochen hin. Paul Nitze legte für eine Konferenz im Weißen Haus am 10. Oktober die verschiedenen möglichen Eskalationsstufen und mögliche US-Reaktionen vor. Doch Kennedy war nicht überzeugt, daß eine nukleare Konfrontation unterhalb eines allgemeinen Atomkrieges möglich wäre. Sein Sicherheitsberater Bundy hielt in seinen Notizen fest: „Die Meinungsverschiedenheiten über Paragraph IV [Einsatz von Atomwaffen] wurde nicht glatt aufgelöst.“(Kaplan 2001)
Die Lösung erfolgte schließlich auf ganz andere Weise. Auf dem XXII. Parteitag hatte Chrustschow am 17. Oktober die Deadline für einen Abschluß eines Friedensvertrages mit der DDR zunächst ins Unbestimmte hinausgeschoben. Die Wiederaufnahme der sowjetischen Atomtests Ende August und die Zündung der größten je getesteten Atomwaffe am 13. Oktober über Nowaja Zemlja waren Demonstrationen von Möglichkeiten, nicht aber Ausdruck tatsächlicher militärischer Stärke (siehe dazu Teil 5). Und die US-Regierung wußte das: Die Angaben der ersten Aufklärungssatelliten hatten die Annahmen über die „Raketen-Lücke“ widerlegt, auch wenn SAC-Chef Power diese Einschätzung in Frage stellte. Um auch Moskau zu zeigen, wieviel man wußte, ohne zugleich die sowjetische Führung öffentlich bloßzustellen, schickte die US-Regierung den stellvertretenden Verteidigungsminister Roswell Gilpatrick zu einer öffentlichen Rede vor dem Business Council – einer hochrangigen, aber nicht staatlichen Versammlung. Der Vorschlag und der Entwurf stammte von Daniel Ellsberg, der im Nachhinein die auch die Nebenwirkungen sah: Die „Enthüllung der amerikanischen Überlegenheit beendete die sowjetischen Behauptungen über ein strategisches Gleichgewicht und Chrustschows Druck auf Berlin“, spielte aber „leider auch eine Rolle in Chrustschows Entscheidung ein Jahr später, Mittelstreckenraketen nach Kuba zu bringen. Tatsächlich sollte die Kuba-Krise die Regierungen in Washington und Moskau nahe an eine atomare Konfrontation bringen.
1961 um Berlin kam es dazu nicht. Noch vor der Checkpoint Charlie Konfrontation hatten die USA deutlich gemacht, daß sie sich keinesfalls als Unterlegene sahen, im Gegenteil. Ein Kompromiß mußte her – und wie sich herausstellte, war er möglich: Ein Kompromiß auf der Grundlage der Einhaltung des Status Quo. Die DDR wurde durch die Mauer stabilisiert – und Westberlin blieb Teil der westlichen „freien Welt“. Die Pläne für einen Atomkrieg aber wurden fortgeschrieben, etwas flexibler. Es war nun möglich, z.B. Ziele in der Volksrepublik China auszunehmen. An der Grundstruktur änderte sich trotz der Bemühungen der Kennedy-Administration nichts. Die verschiedenen Varianten waren nur verschiedene Varianten der „massiven Vergeltung“.
Teil 1: Es geht ein Gespenst aus der Mitropa um/es spukt auf dem Friedhof der Träume
Teil 2: Die Kampfgruppen der Arbeiterklasse am 13. August. Eine Legende und ihr Bild
Teil 3: Weltpolitik als Ausrede. Ein nicht ganz so neues Buch und seine nicht ganz so neuen Thesen
Literatur
(Gold 2005) David Gold: Does Military Spending Stimulate or Retard Economic Performance? Revisiting an Old Debate, New School University, International Affairs Working Paper 2005-01; Übersetzung in Lunapark21, Heft 1 und Heft 3, in Heft 1 allerdings mit falscher Grafik.
(Greiner/Steinhaus 1980) Bernd Greiner/Kurt Steinhaus: Auf dem Weg zum 3. Weltkrieg? Amerikanische Kriegsplanungen gegen die UdSSR, Köln 1980
(Kaplan 1983) Fred Kaplan: The Wizards of Armageddon, 1. Ed. Simon&Schuster, 2. Ed. Stanford University Press 1991