Vorwort
Der nachfolgende Text sollte eigentlich im Freitag erscheinen, doch aus mir unbekannten Gründen wurde nichts daraus. Nach streitbedingter längerer Pause hatte ich im Herbst 2024 wieder einmal eine Arbeit eingereicht, Thema war der friedliche Charakter der 89er Herbstrevolution. Zu finden ist sie in der Nr. 45/2024, und zwar in der Rubrik Debatte. Die Zusammenarbeit mit dem Redakteur Velten Schäfer verlief zufriedenstellen, worauf ich ihm umgehend vorgeschlagen habe, noch etwas von mir zu bringen: eine Kritik etlicher Thesen des Historikers llko-Sascha Kowalczuk. Schäfer billigte meinen Vorschlag, geplanter Umfang: ebenfalls 11.000 Zeichen, also eine Freitag-Seite. Ende November hatte ich ihm den Text zugesandt, Anfang Dezember erhielt ich den Bescheid, er halte ihn soweit für gelungen und warte nun auf einen publizistischen Anlass, ihn zu bringen; spätestens werde sich ein solcher im Vorfeld der Bundestagswahl ergeben, im Februar 2025 also. Bis dahin bitte er mich um etwas Geduld. Ich hielt diese Idee für verfehlt, plädierte aus mehrerlei Gründen für eine Veröffentlichung noch im Jahr 2024; eine Antwort blieb aus. Auch auf alle weiteren Mails in der Sache, vier oder fünf waren es wohl, gab es keinerlei Reaktion, ebenso wenig auf ein kurzes Schreiben an den Chefredakteur: Die Arbeit blieb unveröffentlicht, es wurde mir auch trotz Mahnung kein Ausfallhonorar angeboten. Was folgt ist eine bearbeitete Fassung des Originals; neu ist auch der Titel, der normalerweise von der Redaktion formuliert worden wäre. Daher hatte ich zunächst darauf verzichtet.
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Im Sommer 2024 war Ilko-Sascha Kowalczuks Streitschrift Freiheitsschock erschienen; in den Folgemonaten war ihr Autor in den Medien fast allgegenwärtig, konnte sich im heute journal äußern, auf youtube und in Podcasts, im Freitag und in der Süddeutschen Zeitung, wurde andernorts immer wieder lobend erwähnt: Der aus dem Osten stammende Historiker schreibe ebenso zornig wie eloquent und quellensicher gegen die Normalisierung des repressiven DDR-Systems an, hieß es etwa im Deutschlandfunk. Quellensicher? Ich komme darauf zurück. Dass er in diesem Metier einmal eine derartige Rolle spielen würde, hatte ich nicht einmal geahnt, als ich ihm vor mehr als fünfunddreißig Jahren, im Herbst 1990, beim Treffen einer Basisgruppe der Initiative für eine vereinigte Linke (VL) erstmals begegnet bin. Es ging mit dieser Bürgerbewegung, die einen freiheitlichen und demokratischen Sozialismus anstrebte, damals schon deutlich bergab, unsere kleine Berliner Stadtbezirks-Gruppe fiel, ohne tätig geworden zu sein, im Frühjahr 1991 auseinander. Kowalczuk war zu der Zeit bereits nicht mehr dabei. Später erklärte er, bei uns den menschenverachtenden Charakter dieser VL kennengelernt zu haben. Das fand ich erstaunlich.
Kowalczuk zieht, das ist unübersehbar, viel Aufmerksamkeit auf sich, und so kam mir als möglicher Leitgedanke einer Arbeit über ihn seine Frage Wie macht er das nur? in den Sinn. Sie galt Marko Martin und dessen Buch Brauchen wir Ketzer?, das er im Freitag Nr. 34/2023 mit Lob geradezu überschüttet: … so spannend! So klug! So liebevoll! Es komme darin wieder einmal Martins Stärke zum Tragen, sich dem Leben seiner Protagonisten nicht nur über ihr Werk, sondern auch über die sie umgebende Geschichte zu nähern. Zudem verorte er ihr Werk in den großen Zusammenhängen ihrer Zeit und deren Vergangenheit. Man fragt sich, weshalb Katharina Schmitz, die für die Rezensionen zuständige Redakteurin, solchen schlecht formulierten Banalitäten ihren Segen gab. Im Jahr darauf wurde im Deutschlandfunk Kultur Kowalczuks Freiheitsschock besprochen, und von wem? Von Marko Martin. Und zwar gänzlich kritiklos. Es scheint im Kulturbetrieb so üblich zu sein. Eines aber will ich Kowalczuk zugestehen: Er ist äußerst fleißig. Allein in den letzten Jahren sind Die Übernahme, darauf die zweibändige Ulbricht-Biographie und schließlich Freiheitsschock erschienen, hinzu kommen Beiträge für die Presse, Rezensionen … Doch wenn ich nach Gründen seines Erfolges frage, muss ich auch klären, bei wem er mit seinen Vorstellungen Widerhall findet, womit und warum, und über all das hätte ich wenig zu sagen gewusst. Wichtiger war mir ohnehin die zuvor zu leistende inhaltliche Analyse. Ulrich Busch, u. a. einer der beiden Herausgeber des immer noch lesenswerten Sammelwerkes Ein Vierteljahrhundert deutsche Einheit. Facetten einer unvollendeten Integration, hatte im Blättchen 22/2024 Kowalczuks Interpretation historischer Tatsachen zurecht sehr eigenwillig genannt. Daran will ich konkretisierend anknüpfen. Allerdings scheint Kowalczuk schneller zu schreiben, als ich lesen kann; allein schon deshalb muss ich mich hier auf den Versuch beschränken, einige wenige Methoden und Grundlinien seines Arbeitens zu verdeutlichen.
Freiheitsschock – gleich als ich das erste Mal den Titel las, habe ich mich gefragt, was das wohl sein könnte. Im Prolog finde ich es erklärt: Viele Ostdeutsche hätten die Freiheit, die Offene Gesellschaft als Zumutung und nicht als Chance gesehen, hätten den Sprung in die Freiheit nicht als Befreiung erlebt, und das nenne er den Freiheitsschock. Mal von allem anderen abgesehen: Was hat eine solche Haltung mit einem Schock zu tun? Ein Schock lähmt; was Kowalczuk benennt, würde ich eher als Verweigerung oder Resignation deuten. Aber das Wort lässt aufhorchen, und das ist, wie es scheint, wichtiger als die Stimmigkeit. Unklar bleibt, weshalb er es hin und wieder in Anführungszeichen setzt. Ein Zweites in dem Zusammenhang: Bei der ersten freien Wahl in der DDR betrug die Wahlbeteiligung 93,4%, auch bei der Bundestagswahl im Dezember 1990 lag sie im Osten nur 3,8% unter der im Westen. Von einem Schock scheinen mir die beiden Zahlen nicht zu zeugen, in seinem Buch finde ich sie jedoch nirgends erwähnt. Klar wird aber zumindest, dass es dem Autor um die Akzeptanz von Freiheit und Demokratie geht.
Wie groß jener Teil der DDR-Gesellschaft war, der solche Ziele nicht nur wichtig fand, sondern auch bereit war, für sie einzutreten, war lange Zeit schwer zu ermessen. Schemenhaft sichtbar wurde es wohl erstmals in den von Beobachtern ermittelten realen Ergebnissen der Kommunalwahl vom 7. Mai 1989: etwa 5% Nein-Stimmen und 20% Wahlverweigerer; auch diese Verweigerung war fast immer ein Nein. Es sind Zahlen, in denen das Aktivitätspotential des revolutionären Herbstes aufscheint. Man sollte meinen, die Größe dieser Bewegung hätte Kowalczuk erfreut, doch das ist nicht der Fall. So schreibt er in der Süddeutschen Zeitung vom 7./8. 9. 2024: Einige Hunderttausend flüchteten 1989 und waren so ein wichtiger Motor für andere wenige Hunderttausend, die das Ende der SED-Diktatur herbeidemonstrierten. Der Einfluss der Fluchtwelle auf das damalige Geschehen wird, so scheint mir, oft und gern übertrieben: Als sie einsetzte, war die finale Krise des Systems längst im Gange. Bis Ende Oktober verließen 1989 jedenfalls ca. 270.000 Menschen die DDR. Demonstriert haben aber bis zum Mauerfall mehr als eine Million (ich stütze mich hier vor allem auf die Angaben in Neue Chronik DDR). Kowalczuk beziffert die Teilnehmerzahl der Berliner Demo vom 4. 11. in Freiheitsschock kommentarlos mit 200.000; begründet hat er diese weit unter den sonstigen Angaben liegende Zahl vor einigen Jahren damit, dass der Alexanderplatz mehr Personen nicht fasse. Ich habe Freunde und Bekannte gefragt: Niemand von ihnen hat die der Demonstration folgende dreistündige Kundgebung bis zuletzt durchgestanden; ich selbst bin nur eine Viertelstunde geblieben – es war genug für diesen Tag. Die Teilnehmerzahl der Demo und das Fassungsvermögen des Platzes haben also wenig miteinander zu tun.
Mit ähnlicher Zielsetzung umgedeutet hat er den Verlauf des 89er Herbstes vor längerem schon in Auseinandersetzung mit Detlev Pollack und dessen These, die Revolution sei ein Aufstand der Normalbürger gewesen. Er dagegen äußerte in der FAZ vom 15. Juli 2019 die Meinung, die Bürgerbewegungen seien damals von entscheidender Bedeutung gewesen, sie hätten im Sommer und Frühherbst ‘89 viele Menschen (einige Hunderttausend heißt es im Buch) mobilisiert und motiviert, auf die Straße zu gehen, sie hätten die Sprache und die Kultur der Revolution geprägt, ihre Forderungen artikuliert. Doch woher weiß er das alles? Die Frage stellt sich beim Lesen seiner Texte des öfteren. Tatsächlich waren die neuen Bewegungen im September und Oktober ‘89 nur ausnahmsweise imstande, die Massen zu mobilisieren, und motivieren konnten sie sie schon gar nicht, mussten sie auch nicht: Die Zustände im Lande boten Motivation genug. Vielmehr waren sie selbst, diese Gruppen also, ein Produkt der sich mobilisierenden Massen. Die Demonstranten mussten vor der Demo nicht erst schauen, was diese Gruppierungen wollten, sie wussten selber, warum sie auf die Straße gingen, und sie konnten das auch äußern. Die Bürgerbewegungen und insbesondere das Neue Form waren zunächst vor allem wichtig durch das Ermutigende ihrer bloßen Existenz und ihre Versuche, Forderungen zu Programmen zu bündeln. Größere praktische Bedeutung haben sie erst später gewonnen, bei der Besetzung der Dienststellen des MfS oder der Einrichtung Runder Tische. Hier war ihr Wirken oft sogar unverzichtbar.
Doch warum bemüht Kowalczuk sich, das Tun der Massen kleinzureden? Ich vermute, dass es mit seiner Sicht auf das DDR-Volk zusammenhängt, die er mit nicht wenigen teilt: Es sei, so heißt es immer wieder vorwurfsvoll, autoritätshörig gewesen, habe sich angepasst, in der Diktatur eingerichtet … hat Möbel gekauft, Gardinen vor die Fenster gehängt – man weiß ja, wozu. Um sich später dann siegestrunken – so Kowalczuk – den Siegern anzuschließen. Siegesvolltrunken vielleicht gar. Einem solchen Volk billigt man keine eigenständige Rolle im Revolutionsgeschehen zu, erst recht keine Hauptrolle. Diese Wertung geht mir gegen den Strich, widerspricht meinem Gerechtigkeitsgefühl: Ich möchte all jene in Deutschland, die nach `45 unter sowjetischer Oberherrschaft ohnehin den schlechteren Teil erwischt hatten, und zwar in mehr als einer Hinsicht, nicht obendrein an den Pranger gestellt sehen, nur weil sie ihr Leben leben wollten – das ist es ja, was mit dem verächtlichen Haben sich eingerichtet gemeint ist. Das Volk im Osten hat, wie mir scheint, im großen und ganzen getan, was damals möglich war. Ihm Märtyrertum abzuverlangen ist niemand berechtigt. 2023 hatte allerdings auch Kowalczuk noch viel Lob übrig für dieses Volk: Im Juni ‘53 seien hier an 700 Orten mehr als eine Million Menschen auf die Straße gegangen – eine der großen demokratischen Bewegungen in der deutschen Geschichte. Davon ist in Freiheitsschock nicht mehr die Rede. Man muss ja immer sehen, was gerade passt.
Die oben genannten Eigenarten sollen dann – so eine neuere, weiterführende Argumentation – mehr oder minder bestimmend geworden sein für die Wahlerfolge der AfD im Osten. Mag das Leben hier auch schwer gewesen sein, allein schon wegen der ML-Dauerbeschallung, die ich aber wohl überhört haben muss, so sei es doch, wie er uns in der wochentaz vom 27. Juli 2024 belehrt, viel, viel einfacher, in der Diktatur zu leben als in der Demokratie. Denn dort müsse man ständig Entscheidungen treffen, ich sagen, sich in seine Angelegenheiten einmischen. In der Diktatur übernimmt das alles der Staat. Und weil das so bequem ist, pflege die Mehrheit im Osten noch heute das gleiche paternalistisches Staatsverständnis wie die AfD und das BSW (ich vereinfache ein wenig, aber es trifft wohl den Grundton seiner Argumentation). Die DDR als Fürsorgediktatur? Ja denkste: Auch hier musste man sich um viele Angelegenheiten selber kümmern, musste, um nur zwei Beispiele zu nennen, immer wieder vorsprechen, wenn es um die Wohnungszuweisung ging, musste Schlange stehen, wenn man ein Doppelfenster wollte. Gegen Kowalczuks Erklärungsansatz spricht auch, dass diese Rechte à la AfD ebenso in Ländern mit demokratischer Tradition stark geworden ist. Können ganz unterschiedliche Staatstraditionen zu ein und demselben Ergebnis führen? Wohl kaum. Ich glaube ebenso wenig wie er, den Generalschlüssel zur Erklärung des Erfolgs speziell der AfD in der Hand zu haben, vermute aber, dass sich darin vor allem ein Wille zur rücksichtslosen Durchsetzung eigener Interessen zeigt, der zugleich auf den Charakter der (vielleicht nicht mehr fernen) Untergangskämpfe der bürgerlich-kapitalistischen Ordnung verweist. Dafür spricht auch die seit längerem schon zu erkennende Verrohung des Alltagsverhaltens.
Von alledem ausgehend schaue ich nun, zuletzt, auf sein Debattenverhalten, seinen Umgang mit Andersdenkenden: In Katja Hoyers Diesseits der Mauer komme der Staat überhaupt nicht vor (Freitag 34/2024). Ich habe es stichprobenartig überprüft: Es stimmt nicht. Oschmann behaupte in Der Osten, alle Ostdeutschen seien so wütend wie er. Ich habe das Buch gelesen: Stimmt ebenfalls nicht. Er habe mit seinen Vorstellungen die Debatte intellektuell um Jahre zurückgeworfen (ebenda). Anscheinend gibt es für ihn nur einen akzeptablen Debattenverlauf: den, der ihm in den Kram passt. Detlef Pollack liefere Gysi die Interpretation für dessen Geschichtsumdeutung, die Genossen werden es ihm danken (FAZ, a.a.O.). Ich glaube kaum, dass sie es getan haben. Dass man Freiheit und Demokratie nicht mit Diffamierungen und Falschangaben befördert, scheint Kowalczuk egal zu sein: Er will nach vorn. Zu fragen wäre zuletzt, weshalb die hiesige Historikerzunft solches Vorgehen stillschweigend hinnimmt.