Nobelpreiswürdig? Mahagonny reloaded

Paul Romer und die Charter Cities:
Auf der Suche nach dem kapitalistischen Utopia.

Vorbemerkung: Die Königlich-Schwedische Akademie der Wissenschaften hat beschlossen, den Wirtschaftsnobelpreis 2018 an William Nordhaus und Paul Romer zu verleihen. Nordhaus erhält den Preis für seine Forschungen zum Einfluß des Klimawandels auf die wirtschaftliche Entwicklung. Romer wird für seine Modellierung technologischen Fortschritts ausgezeichnet. Was Paul Romer alles dem kapitalistischen Fortschritt zu opfern bereit ist, das ist angesichts der aktuellen Würdigung kein Thema. Deshalb eine kleine Erinnerung.(*)

Wörtlich genommen heißt Utopia: Ohne Ort, nirgendwo. Seit dem Erfolg der fiktiven Reiseerzählung vom Besuch in einer idealen Gesellschaft, die der englische Lordkanzler Thomas Morus 1516 unter diesem Titel veröffentlichte, werden unter diesem Namen allerlei verschiedene Gegenentwürfe der jeweils bestehenden Gesellschaft angeboten.
Oft handelt es sich dabei um eine geradlinige Flucht aus den Konflikten und Hässlichkeiten der Gegenwart, bei der ein harmonisches und meist auch etwas langweiliges Miteinander ebenso schöner wie gebildeter Menschen in parkähnlicher Landschaft angeboten wird. Von daher ist es kein Wunder, dass die Anti-Utopien meist interessanter sind: Sie versuchen nicht, den Leserinnen und Lesern alle Widersprüche vorzuenthalten. Immer, positiv wie negativ, sagen Utopien etwas über die Gesellschaft aus, in der sie entstanden sind. Am aufschlussreichsten aber sind nicht die Texte, sondern die Versuche, Utopien zu verwirklichen.

Ein solcher Versuch ist in Honduras im Oktober 2012 gescheitert. Paul Romer, Professor der Wirtschaftswissenschaften in New York, hatte sich vor Jahren mit seinen Modellen zur Entstehung von Innovationen im Kapitalismus einen großen Namen gemacht. Der technische Fortschritt sollte nicht mehr „wie Manna vom Himmel“ fallen, sondern sich aus Investitionen in Humankapital und dem freien Markt ergeben. So entwickeln sich die Ideen, die die Welt besser machen. Leider musste der Professor feststellen, dass die wirkliche Welt seinen fortschrittlichen Ideen nicht ganz entspricht. Weitverbreitete Armut führte ihn aber nicht dazu, den Glauben an seine Modelle und an den Markt aufzugeben. Sondern er stellte fest, dass leider in der Welt zu wenig von der Ordnung herrscht, in der sich der Wettbewerb gut entwickeln kann. So entwarf er einen neuen Gesellschaftsvertrag, ein Modell einer gänzlich frei und privat entwickelten Stadt: die Charter City (chartercities.org). Vor allem für die Dritte Welt, in der noch immer Kriminalität und Korruption herrschen, sollten sich ungeahnte Möglichkeiten eröffnen.

Ein Ideengeber sind für Romer dabei die „Charter Schools“, weitgehend öffentlich finanzierte, aber privat betriebene Schulen, die nicht nur in der Bezahlung von Lehr- und Reinigungskräften kräftig Geld sparen, sondern auch im Lehrplan eigene Akzente setzen können: Weg mit der Bevormundung durch Bildungsbürokraten und Gewerkschaften!

Liberale Idealstadt
Wie die meisten Utopisten hatte auch Paul Romer ein großes Vorbild: die Stadt Hongkong. Aus ein paar Inseln mit Fischern wurde in den Jahren der britischen Herrschaft ein prosperierendes Zentrum, weil die Briten die richtige Verwaltung und gute Regeln eingeführt haben. Und auf die kommt es an, nicht auf die falschen Lehren von Selbstverwaltung und Demokratie. Sondern auf den Rechtsstaat, der alle gleich behandelt und ihnen damit ihre Chance gibt. Die Autorität des Rechts, die Achtung vor der Person und dem Eigentum des anderen, ist entscheidend. Investoren würden sich ansiedeln und Arbeitsplätze bieten, auf denen sich auch schlecht ausgebildete Personen in einfacher Arbeit bewähren, ihr Einkommen sichern und ihr Humankapital mehren können: Learning by doing. Und irgendwann, wenn sich alle eingewöhnt haben, darf auch gewählt werden.

Eine Eingewöhungsphase ist aber nötig, immerhin soll die neue Idealstadt vor allem eines sein: neu. Ohne Rücksichten, ohne irgendwelche überkommenen Strukturen! Wie jede echte Utopie lebt auch die Charter City von der Illusion, man könnte einfach mal ganz von vorne anfangen und diesmal alles richtig machen. Nur eine Struktur soll selbstverständlich aus der Vergangenheit übernommen werden: das Eigentum. Denn die Infrastruktur soll durch private Unternehmen errichtet, betrieben und aus Gebühren finanziert werden. Privatfirmen garantieren auch die öffentliche Sicherheit. Wohl soll eine gesetzliche Krankenversicherung eingeführt und ein Mindestlohn gezahlt werden. Aber anders als bei Thomas Morus ist bei Paul Romer das Eigentum der Kern der Zivilisation. Eine Arbeitslosenversicherung sieht der Professor nicht vor – in Anbetracht der guten Investitionsbedingungen sieht er hier wohl keine Schwierigkeiten. Wer trotz der tollen Möglichkeiten scheitert, hat ein privates Problem.

Die wirkliche Welt
Eine echte Schwierigkeit ergab sich aus der Frage, wo denn ein Pilotprojekt gestartet werden könnte. In Madagaskar musste die Regierung abtreten, bevor es zum Projektstart kam. Doch statt nach den Gründen des Scheiterns suchten Romer und seine Freunde nur nach einem neuen Partner – und fanden ihn: Honduras, das nach dem Putsch gegen den demokratisch gewählten Präsidenten Manuel Zelaya von den erfolgreichen Putschisten regiert wurde. Im Januar 2011 nahm das Parlament eine Verfassungsänderung an. Honduras braucht Investoren. Konkrete Territorien für drei Städte wurden in Aussicht genommen und eine lokale Organisation ins Leben gerufen. Und während Romer für sich selbst keine führende Rolle beanspruchte, gab er doch gerne Interviews, in denen er seine Sicht der Dinge vertrat (Die Zeit, 5. Juni 2012). Da sah es noch so aus, als ob aus dem Projekt etwas wird.

Bevor jedoch der Ausbruch in die Zukunft beginnen konnte, war noch eines zu klären: Was sollte mit den Leuten geschehen, die auf dem gar nicht so jungfräulichen Boden der künftigen liberalen Metropolen ihr armes, aber ihr Leben fristeten. Die sich gar nichts von der Ankunft der Investoren versprachen und dem Versprechen auf einen Mindestlohn nicht trauten. Die Indigenas der Garifunda begannen zu protestieren. Stimmen wurden laut, die in der Aufgabe der Souveränität einen Landesverrat sahen. Anfang September 2012 erklärte Romer, eigentlich mit dem Honduras-Projekt gar nichts zu tun zu haben. Da war bereits eine Verfassungsbeschwerde unterwegs, die das Ganze vor das Oberste Gericht brachte. Und das entschied im Oktober gegen die erzliberalen Neuerer.

Erfolg! Erfolg!
Die Wanderprediger des Neoliberalismus hätten einen Blick in die Literatur werfen sollen, bevor sie ihre Hoffnung auf honduranische Putschisten setzten. In der Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ hat Bertolt Brecht vor Jahrzehnten beschrieben, was es für einen Erfolg des reinen liberalen Modells braucht: Einen leeren Platz zwischen Wüste und Meer, einen Goldrausch und Leute, die sich dem selbstgemachten Zwang zum unbedingten Erfolg unterwerfen. Leute, die nichts zu verlieren haben außer ihrem Geld und ihrem Leben. Die eine Stadt errichten, in der alles erlaubt ist – nur eines nicht: „Vor allem aber achtet scharf/ Dass man hier alles dürfen darf./(wenn man Geld hat.)“ Wer nicht mehr zahlen kann, den erwartet die Todesstrafe in Mahagonny , einem Utopia, das noch konsequenter ausfällt als die Vorschläge des New Yorker Professors …

Tatsächlich gibt es auch in der wirklichen Welt Orte, an denen die Rezepte Paul Romers ganz ohne sein Zutun schon lange befolgt werden: Die Sonderwirtschaftszonen im chinesischen Pearl-River-Delta machen deutlich, dass die Kombination aus Rechtsstaat für das Kapital und autoritärem Staat durchaus prosperieren kann. In den Brutstätten des chinesischen Wegs zum Kapitalismus wird für wenig Geld viel geschuftet, während Staat und Partei für die öffentliche Ordnung und die Achtung vor dem Privateigentum der Investoren Sorge tragen. Die Industrie boomt und boomt. Shenzen hatte 1979 etwa 30000 Einwohner, 2009 waren es 12 Millionen. Zwar ist es nicht der Markt alleine, der diesen Aufschwung gestaltet. Doch angesichts des wirtschaftlichen Erfolgs kann der Ökonom über die durchgängige staatliche Beförderung der Investitionen hinwegsehen. Und die Presseberichte über die Privatvermögen der Parteielite legen nahe, dass die Verhinderung der Korruption im chinesischen Kapitalismus bisher nicht wirklich gelungen ist. Aber das hätte wohl auch in Honduras nicht so ohne weiteres geklappt.

Quellen: Belen Fernandez, Partitioning Honduras: The advent of charter cities, www.aljazeera.com, 14. Juli 2012

(*) Erstveröffentlichung: Lunapark21, Heft 20/Dezember 2012.

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