Der Workshop: Themen und Positionen. 25 Jahre INF-Vertag, Teil 2 von 4

Eine Schwierigkeit der friedenspolitischen Debatte ist der moderne Hang zur Ausdifferenzierung verschiedener Subsysteme. Weniger modern formuliert: Man redet nicht mehr miteinander, der Austausch von Positionen findet nur noch im eigenen Umfeld statt. Militärs und Regierungen mag dies ganz recht sein. So hat man alles besser unter Kontrolle. Für eine politische Debatte ist es tödlich. Politik ist wesentlich öffentlich, auch wenn Diskussionen über Kernwaffen von Regierungen und Militärs gerne aus der Öffentlichkeit herausgehalten werden. Politik fängt dagegen – so heißt es im Kopf dieses Blogs – erst da an, wo man nicht mehr alle Beteiligten persönlich kennt. Es geht nicht nur um die Verständigung unter den jeweiligen Spezialisten.

Aber es geht um eine Verständigung auch mit den Experten. Im Falle von Kernwaffen heißt das: die damit befassten Militärs. Ein Ziel des Workshops war es, Offiziere beider Seiten an einen Tisch bringen. Raymond E. Haddock, von 1984-1987 Kommandeur der Pershing II, hatte früh sein Kommen zugesagt. Nikolai Skiba und Nikolai Jegorow waren 1984 im Gegenzug zur Pershing II-Stationierung mit ihren SS-12-Atomraketen nach Bischofswerda in Sachsen verlegt worden. Zusammen mit dem belorussischen Filmregisseur Juri Gorulew konnten sie sowjetische Perspektiven auf den Konflikt einbringen. Neben die Militärs trat die internationale friedenspolitische Gegenexpertise: Hans Kristensen aus den USA, Wilbert van der Zeijden und Laurens Hogebrink aus den Niederlanden sowie der Physiker und Historiker Igor Sutyagin, der von Oktober 1999 bis Juli 2010 als vermeintlicher US-Spion in russischer Haft saß. Der Wissenschaftler war nach jahrelangen Bemühungen von Menschenrechtsorganisationen erst im Zuge eines „Agentenaustausches“ frei gekommen und gezwungen worden, sein Land zu verlassen. Eingeladen waren Vertreter der Friedensbewegung aus Ost und West, Wissenschaftler unterschiedlicher Institutionen. Und Ende Oktober stellte sich schließlich heraus, daß auch offizielle Diplomaten Interesse an der Diskussion hatten: Vom US State Department und dem deutschen Auswärtigen Amt kamen zuständige Damen und Herren.

Ein kurzes Resümee des Workshops ist nicht möglich und soll hier nicht versucht werden. Etwa 11 Stunden Diskussion und zwei Exkursionen [1] sind nicht in einigen Zeilen zusammenzufassen. Eine Transkription der Debatte würde schon ein kleines Buch ausmachen. Ganz zu schweigen von den Gesprächen am Rande, die manche Verständigung erst ermöglicht haben. Trotzdem sollen hier schon einmal einige Aspekte in einer sicher subjektiven Auswahl kurz vorgestellt werden, weil es ja nicht nur um die Experten geht.

Der Sonnabendvormittag begann mit einer Vorstellung des Konzepts des Workshops durch Otfried Nassauer und einem Rückblick auf die Friedensbewegung der achtziger Jahre in Ost und West. Beides gehörte zusammen. Denn es waren ja keine hauptamtlichen Diplomaten oder aktive Militärs, sondern Aktive aus der Friedensbewegung, die diese Diskussion ermöglicht hatten. Christoph-Becker Schaum und Uli Cremer berichteten über die Geschichte der Friedensbewegung im Westen, Sebastian Pflugbeil über die Praxis der unabhängigen Friedensgruppen im Osten. In der DDR, in der eine unabhängige Friedensbewegung selbstverständlich nicht legal war und auch keine großen Demonstrationen organisieren konnte, lag der Schwerpunkt auf der durchaus kleinteiligen Aufklärung über die Folgen von Kernwaffenschlägen, egal ob östlicher oder westlicher Herkunft. Anhand des jeweiligen Vortragsortes wurde demonstriert, welche Folgen hier eine Kernsprengkopf von 30 Kilotonnen (kt) hätte. Ein Herangehen, das auch heute noch Aufklärung bewirken könnte – zumal die dazu gehörige Technik hat sich mittlerweile deutlich verfeinert hat. Die Diskussion konzentrierte sich dann zum einen auf die Motive für den friedenspolitischen Aufbruch großer Gruppen Anfang der achtziger Jahre, zum anderen auf die Rolle kommunistischer Organisationen in der Friedensbewegung im Westen.

Im zweiten Panel gaben zunächst der ehemalige NVA-Raktenoffizier Peter Schulz vom Luftfahrtmuseum, der Historiker Detlef Bald, Wolfgang Biermann, Mitarbeiter des SPD-Parteivorstandes, und Bernd Biedermann, seinerzeit DDR- Militärattaché in Belgien, verschiedene Einblicke in die deutsche Wahrnehmung der Perspektiven beider Lager und ihre Rolle bei der Zuspitzung der internationalen Lage Ende der siebziger Jahre. Wenig Differenzen gab es um die Feststellung, daß beide Seiten ihre neuen Waffensysteme schon lange vor der Debatte um die Stationierungen entwickelt hatten: Sowohl die SS-20, als auch die Pershing II und GLCM gingen auf Entscheidungen der späten sechziger Jahre zurück. Aber die Debatte um die politischen Fragen wurde nun deutlich lebhafter. In der Diskussion der Friedensbewegung längst in Frage gestellte Konzepte – militärstrategisches Gleichgewicht, Abschreckung, Zusammenhalt in der westlichen Allianz – tauchten als ganz normale Begriffe in den Beiträgen der Militärs und Experten wieder auf. Klar erkennbar wurde schon hier, daß die Militärs und Diplomaten aus dem Westen weniger Grund für eine selbstkritische Überprüfung ihrer damaligen Politik sehen. Manche von ihnen sahen und sehen in der „Nachrüstung“ von 1983 einen notwendigen, und schließlich erfolgreichen Schritt im Zuge des Kalten Krieges.

Diesen Eindruck bestärkte das Panel 3, wo Raketenoffiziere beider Seiten zu ihrer damaligen Arbeit Stellung nahmen. Für Raymond Haddock waren die Pershing II selbstverständlich gerechtfertigt. Sie wurden stets nur auf militärische Ziele gerichtet und entsprachen dem Interesse auch der deutschen Bevölkerung nach Schutz vor der aggressiven Sowjetunion. Dazu war es nötig, stets einige Raketen mit einsatzbereiten Kernsprengköpfen im Quick Reaction Alert zu halten. In weniger als 15 Minuten wären sie startklar gewesen. Ähnlich wie Haddock legte auch Nikolai Skiba, ehemals Gefechtskopfverantwortlicher in der 119. Raketenbrigade der Roten Armee, großen Wert auf die gewährleistete Sicherheit beim Umgang mit den Atomsprengköpfen. Detailliert beschrieb er die Arbeitsteilung, die prinzipiellen Abläufe und die Befehlswege auf der sowjetischen Seite. Dort wurden die Gefechtsköpfe und die Raketen erst im Falle eines speziellen Befehls des sowjetischen Generalstabs zusammengeführt. Mit Sicherheit hätte das etwas länger gedauert – aber welche Bedeutung hatte das im Fall eines thermonuklearen Krieges in Europa? Zwei Tage später, auf der Exkursion bei Bischofswerda, sagt Skiba dazu schlicht, es ginge doch nur darum, „wer eine halbe Stunde früher tot ist.“ Ernsthafte militärische Planungen für die Zeit nach dem Abfeuern ihrer SS-12-Raketen habe es nicht gegeben. Sicher hätte er den Befehl zum Einsatz der Kernwaffen ausgeführt, doch zum Glück sei ein solcher Befehl nie gekommen. Die Idee eines „führbaren Atomkrieges“ war ihm, wie auch seinem Kollegen Nikolai Jegorow, fremd. Trotzdem zeigten die sowjetischen Raketenoffiziere deutliche Unzufriedenheit mit den sehr weitgehenden sowjetischen Abrüstungsschritten. Doch bezog sich diese Unzufriedenheit vor allem auf die fehlende soziale Absicherung der schließlich entlassenen Berufssoldaten, die von ihrem Vaterland nicht gut behandelt wurden. Doch wollten sie ihre Waffen nicht zurück. Denn es gibt ein altes russisches Sprichwort: „Ein miserabler Frieden ist besser als ein guter Streit“ – oder, wie ein russischer Kommentator vor einigen Jahren schrieb: „Ein schlechter Vertrag ist besser als eine gute Rakete.“

Tatsächlich hatte die sowjetische Führung weitgehende Zugeständnisse machen müssen. Weder die Einbeziehung der französischen und englischen Nuklearwaffen, noch die Vielzahl luft- oder seegestützter nuklearer Mittelstreckensysteme der USA wurden in den INF-Vertrag einbezogen. Offensichtlich war damit kein Sicherheitsrisiko für den Ostblock verbunden. Aber welche Seite in den achtziger Jahren nicht nur ökonomisch stärker war, darüber konnte wenig Zweifel bestehen. Mit dem Weg zum INF-Vertrag und seiner Umsetzung befaßte sich Panel 4. Oliver Bange (Militärgeschichtliches Forschungsamt) umriß die Bedeutung der technologischen Herausforderung für den Weg des sowjetischen Militärs zu einer ausschließlich defensiven Kriegskonzeption, die schon 1985 ihren Niederschlag in militärischen Planungsdokumenten fand. [2] Peter Herrich vom Verifikationszentrum der NVA schilderte das praktische Vorgehen der DDR-Militärs bei der Umsetzung der Abrüstungsbeschlüsse – und Harry Heintzelmann vom US Stade Department die Schritte zur Umsetzung des INF-Vertrages nach dem Zerfall eines Vertragspartners, der Sowjetunion. Prinzipieller argumentierte Margret Johannsen (Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik), die nicht nur die Ratifizierung des Vertrages im US-Senat schilderte, sondern auf die Frage nach den Folgen der völlig neuen zerstörerischen Wirkungen von Kernwaffen einging und unter Bezug auf das Panel 1 die Frage der Existenzberechtigung von Kernwaffen wiederholte: Wofür sind diese Dinger da? Und in Anbetracht dieser Frage hatte für sie auch die Feststellung, daß im INF-Vertrag selbstverständlich die SU weit größeren Abrüstungsschritten zugestimmt hatte, geringeres Gewicht.

Für manchen stellt sich dies aus russischer Sicht anders da. Im vorgestellten Trailer zu seinem Dokumentarfilmprojekt „Rückkehr nach Bischofswerda“ läßt Juri Goruljew unter anderem sowjetische Militärs zu Wort kommen, die Gorbatschow und Schewardnadse umstandslos des Vaterlandsverrats beschuldigen und für sie wortstark die Todesstrafe fordern. Daß das friedliche Ende des Kalten Krieges ein Erfolg war, kommt im Film auch zur Sprache. Aber nicht von ihnen. In der folgenden Diskussion stellte Laurens Hogebrink die These auf, daß ohne die Veränderungen der Jahre 1989/90 der INF-Vertrag schwerlich der Beginn einer Epoche atomarer Abrüstung hätte werden können. Erst diese Veränderungen hatten in Westeuropa den Versuch beendet, sich einen Ersatz für die verlorenen Kernwaffen zu beschaffen. Ob allerdings eine atomare Modernisierung nach dem INF-Vertrag noch gegen die eigene Bevölkerung durchsetzbar war, blieb umstritten. Ende der Achtziger hatte sich die Stimmung klar gegen neue Kernwaffen gedreht.

Das Ende des Kalten Krieges war jedoch nicht das Ende der Kernwaffen, auch nicht in Europa. Tatsächlich sind in abgestimmten, aber einseitigen Abrüstungsprogrammen der USA und Rußlands nach 1991 ein großer Teil dieser Waffen aus dem Dienst entfernt und teilweise auch demontiert worden. Trotzdem befinden sich wohl nach wie vor neben den geringen britischen und französischen Arsenalen noch reichlich Kernwaffen der USA und Rußlands auf dem Kontinent. Hans Kristensen beschrieb in der Abendrunde am Sonnabend den westlichen Part der Geschichte, der zu einem Bestand von heute etwa 200 US-Atombomben geführt hat. Igor Sutyagin schilderte den russischen Part, wobei er unter Berücksichtigung der sowjetischen bzw. russischen Grundsätze der Kernwaffenstationierung zu deutlich geringeren Zahlen kommt, als im Westen für gewöhnlich angesetzt werden: Er geht von etwa 1000 russischen Nichtstrategischen Kernwaffen aus. Klar ist, daß ohne neue Verhandlungen weitere Abrüstungsschritte von Teilen der Nato klar abgelehnt werden. Und klar ist auch, daß Rußland nunmehr die Argumentation der Nato aus den siebziger Jahren aufgenommen hat: So wie damals eine sowjetische konventionelle Überlegenheit die Notwendigkeit für US-Kernwaffen in Europa begründen sollte, so verweist die russische Seite heute auf die konventionelle Überlegenheit der Nato, um die Notwendigkeit eigener taktischer Kernwaffen zu begründen. Mit diesem Sachstand war die Ausgangslage für die Abschlußdebatte am Sonntag umrissen. [3]

Und dabei ging es nun nicht mehr um die Vergangenheit, sondern nur mehr um die Gegenwart, in der Entscheidungen für die Zukunft anstehen. Hans Kristensen stellte die aktuellen Vorstellungen zur Modernisierung der US-Kernwaffen vor. Die derzeit etwa 200 US-Atombomben in Europa sind nicht für US-Flugzeuge, sondern für einen Einsatz durch die Luftwaffen der jeweiligen Stationierungsländer im Rahmen der „nuklearen Teilhabe“ vorgesehen. In der Bundesrepublik sind dies die Tornados des Jagdbombengeschwaders 33 in Büchel. Für etwa 10 Milliarden US-Dollar ist eine Weiterentwicklung dieser Bomben geplant. Im Ergebnis sollen die vorhandenen Bomben vom Typ B 61-4 und B 61-3 nicht nur länger verwendet werden können, sondern als B 61-12 auch ein Heckleitwerk erhalten, das die Treffergenauigkeit deutlich erhöht. [4] Zusammen mit neuer Flugzeugelektronik z.B. im neuen Stealth-Jagdbomber F-35 würde eine „dumb bomb“ in eine atomare Präszisionswaffe verwandelt, die erstmals wieder einer Seite eine Erstschlagsfähigkeit geben könnte.

Grundlage für dieses Programm ist aber selbstverständlich die Entscheidung, überhaupt weiter Kernwaffen in Europa zu stationieren. Wilbert van der Zeijden diskutierte die unterschiedlichen Positionen in der Kernwaffenfrage. Während in den derzeitigen Stationierungsländern, den Niederlanden, Belgien, Italien oder der Bundesrepublik, die Unterstützung für die Kernwaffen bis in die Regierung hinein bröckelt, bestehen gerade Länder aus dem „neuen Europa“, nicht zuletzt ehemalige US-Offiziere in baltischen Verteidigungsministerien, auf der notwendigen Abschreckung Rußlands. Im Mai 2012 hat die Nato in Chicago die Fortführung ihrer bisherigen Nuklearwaffenpolitik beschlossen. Doch Stationierung oder Abzug der Atombombe ist eine nationale Entscheidung. Der Abzug wäre möglich, ohne einen Konsens in der Nato abzuwarten – wenn man ihn denn wirklich will.

Das war die Vorlage für die zuständige Referatsleiterin im Bundesaußenministerium, Susanne Baumann. Nach einem freundlichen Lob für die Konferenz und einem allgemeinen Bekenntnis zur Perspektive einer Kernwaffenfreien Welt – immerhin steht im Koalitionsvertrag der amtierenden Regierung, daß man sich für einen Rückzug der Atombomben einsetzten werde, die FDP des Außenministers hatte mit dem Thema Wahlkampf gemacht – setzte sie etwas andere Schwerpunkte. So sei es besser, nicht Modernisierung oder Abrüstung einander entgegen zu setzen, sondern zu verbinden. Die Verlängerung der Lebensdauer der US-Waffen sei ein rein nationales Programm. Schließlich müsse eine Einigung über die Kernwaffen in Europa im Rahmen eines Vertrages mit Rußland gefunden werden, der auch die russischen taktischen Nuklearwaffen einbezieht. Wichtig sei die Gegenseitigkeit aller weiteren Schritte, nicht wer den ersten oder zweiten Schritt macht. Im Rahmen des New START sei ein Anfang gelungen. Selbst die umstrittene Frage der Raketenabwehr versuchte sie in eine Chance zur Kooperation mit Rußland umzudeuten.

Daran konnte Harry Heintzelmann vom State Department direkt anknüpfen. Es gehe um erfolgreiche Abschreckung und die schrittweise Verminderung der Abhängigkeit von Kernwaffen überhaupt. Die USA hätten den Bestand ihrer taktischen Kernwaffen von 1967 bis 2009 um 84 Prozent reduziert. Nun sei Rußland an der Reihe: Gegenseitigkeit das Gebot der Stunde. Mit mehr Transparenz könnte Vertrauen aufgebaut werden, um ohne eine Abkopplung Europas von den USA die Bedeutung der Kernwaffen zu vermindern. Genau in der Verbindung der Modernisierungsplanungen mit dem Angebot zu neuen Verhandlungen sah Laurens Hogebrink die Gefahr einer Wiederholung der Eskalationsschritte des Nato-Doppelbeschlusses, nach dem Motto: wir würden ja auf die Modernisierung verzichten – wenn nur die Russen endlich auch … Dabei ist nur eines sicher: Daß auf eine Modernisierung der US-Atombomben eine russische Rüstungsantwort folgen wird. Und eine einseitige Fixierung nur auf die russischen Kernwaffen sei insbesondere angesichts der konventionellen Überlegenheit der Nato nicht sinnvoll.

Zu einer Gesamtsicht der militärpolitischen Situation in Europa, von der sich die Diskussion zunächst entfernt hatte, führte Igor Sutyagin in einer Vorstellung von „Natos Unbalanced Proposals“ – der „Einseitigen Vorschläge der Nato“ zurück. Er zählte die Bedrohungen aus, die aus russischer Sicht existieren. 1) Die Gefahr eines Erstschlags der Nato, ermöglicht durch Stealth-Technologie und abgesichert durch eine Raketenabwehr. 2) Die konventionelle Überlegenheit der Nato. 3) Die US-Pläne für „Global Prompt Strike„. Sutyagin verwies auf die gänzlich andere strategische Lage Rußlands, das sich in der Reichweite von in Westeuropa stationierten Waffen befindet, die damit sofort eine strategische Bedeutung haben, auch wenn es sich nicht um interkontinentale Waffen handelt. Insbesondere heißt das, daß eine Transparenz in Bezug auf Kernwaffeneinheiten und Lager dazu führt, daß auf russischer Seite viele Atomeinrichtungen im Kernland inspiziert werden sollen, die Kernwaffen nicht nur lagern, sondern auch warten. Dagegen würden die entsprechenden Einrichtungen in den USA nicht kontrolliert. Schließlich ist die Stationierung russischer nichtstrategischer Kernwaffen – in alter sowjetischer Tradition – gänzlich anders organisiert als in der Nato: Atomsprengköpfe und Trägersysteme sind prinzipiell getrennt, in verschiedenen Basen untergebracht. Der notwendige Transport zum Einsatzmittel kann daher mit Satelliten überwacht werden. Dagegen befinden sich die B 61 so in den Bunkern der Einsatzflugzeuge, daß sie ohne Einsicht von außen startklar gemacht werden können. Der Umstand, daß Rußland US-Generäle in die eigenen Kernwaffenlager eingelassen hat, dem Chef der für die Atomsprengköpfe zuständigen 12. Hauptverwaltung des Russischen Verteidigungsministeriums dagegen gleiches in den USA verwehrt wurde, trägt auch nicht zu größerem Vertrauen bei. Man muß die Weltsicht Wladimir Putins nicht teilen, um hier Probleme zu erkennen.

In Anbetracht dieser Lage war es nicht ganz einfach, dem Vorschlag Otfried Nassauers zu folgen, und positive Vorschläge für eine künftige Verminderung der nuklearen Rüstungen in Europa zu formulieren. Uli Cremer kam darauf zurück, daß es drei Wege der Abrüstung gebe: Verrosten lassen, Verhandeln, einseitig abrüsten. Wilbert von der Zeijden plädierte für nationale Alleingänge, indem er vor der Nato warnte: Diese sei in der Anpassung an neue Verhältnisse immer gut gewesen und habe sogar das Ende ihres Feindes überlebt. In der Herbeiführung von notwendigen Veränderungen sei die Nato nicht wirklich gut. Dem entsprachen die zurückhaltenden Überlegungen der Diplomaten aus Washington und Berlin zur künftigen Vertrauensbildung zwischen den USA, der Nato und Rußland.

Mehr als ein vergleichsweise offener Austausch von Positionen und Überlegungen war von dem Workshop nicht zu erwarten. Dieser Austausch ist gelungen, auch über manche, 20 Jahre nach Ende des Kalten Krieges noch immer deutliche Grenzlinie hinweg. Aber weder können noch wollen Militärs und Diplomaten der USA oder der Bundesrepublik ihre Staatsräson in Frage stellen. Aus Sicht einer Bedrohungsanalyse haben sie dazu auch keinen Grund: Die Schwierigkeiten mit Rußland sind keine Systemkonkurrenz und keine lebensbedrohliche Herausforderung. Wie verschiedentlich betont wurde, arbeitet die Nato mit Rußland bei der Versorgung ihres Afghanistaneinsatzes gut zusammen. Und die Friedensbewegung kann sich zwar in Europa auf eine verbreitete Ablehnung von Kernwaffen stützen. Doch als akute Bedrohung werden diese Waffen nur selten wahrgenommen. Ein parallel zum Workshop produzierter Beitrag des mdr über die US-Bomben in Büchel konzentrierte sich auf die Fragen der technischen Schwierigkeiten und Risiken – genau das, was Nikolai Skiba in seinem Beiträgen als das noch beherrschbare Problem bezeichnet hat. Sicherlich hat der Film eine aufklärerische Wirkung. Und im Interview mit Hans Kristensen bildete das Büro der Hausverwaltung des Hauses der Demokratie den schmückenden Hintergrund. Doch die Frage nach den zweifellos todsicheren Einsatzkonzepten solcher Bomben erörterte der Beitrag nicht.


Quellen
[1] Zur Exkursion nach Bischofswerda siehe die Berichterstattung in der Sächsischen Zeitung. Über den Besuch in Mutlangen gab es Berichte in der Welt, der Südwestpresse, dem Tagblatt und der Remszeitung.

[2] Siegfried Lautsch, Zur operativen Einsatzplanung der 5. Armee der NVA im Rahmen einer Front der Vereinten Streitkräfte der Warschauer Vertragsorganisation in den 1980er Jahren, in: Die Streitkräfte der DDR und Polens in der Operationsplanung des Warschauer Paktes. Mit Beiträgen von Torsten Diedrich, Winfried Heinemann, Siegfried Lautsch, Zbigniew Moszumanski und Czeslaw Szafra. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hrsg. von Rüdiger Wenzke, Potsdam: MGFA 2010

[3] Einen kompakten Überblick über Nulearwaffen gestern und heute gibt das Nuclear Information Project der Federation of American Scientists. Zu Hintergrund, politischen Interessen, Einsatzgrundsätzen und Verteilung substrategischer Kernwaffen vergleiche die Studien des James Martin Center for Nonproliferation Studies:
Reducing and Regulating Tactical (Nonstrategic) Nuclear Weapons in Europe
Reducing and Regulating Tactical (Nonstrategic) Nuclear Weapons in Europe: Moving Forward?

[4] Eine Darstellung der Geschichte und aktuellen Konflikte in deutscher Sprache enthält eine Studie des Bits vom August 2012:
Atomwaffen-Modernisierung in Europa. Das Projekt B61-12

Die Serie

Ein Anfang vom Ende? 25 Jahre INF-Vertrag, Teil 1
Ein unwahrscheinlicher Erfolg. 25 Jahre INF-Vertrag, Teil 3
Es geht um mehr. 25 Jahre INF-Vertrag, Teil 4

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