Anmerkungen zu Timm Graßmann, Marx‘ Theorie und Studium der wiederkehrenden Wirtschaftskrisen1
Akademische Qualifikationsarbeiten unterliegen eigenen, aufgeschriebenen und unaufgeschriebenen Regeln. An der Originalität der vorliegenden Arbeit besteht kein Zweifel. Das Buch entstand aus einer Dissertation, die im Jahr 2020 an der Universität Osnabrück angenommen wurde. Timm Graßmann ist Mitarbeiter der MEGA-Arbeitsgruppe der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Er war einer der Bearbeiter der Marxschen Exzerpte zur Krise 1857/58 (MEGA IV/14) und hat die Einleitung zur Veröffentlichung der Exzerpte zur Geldkrise aus den Jahren 1868/69 (MEGAdigital IV/19) verfasst. Gleich zu Beginn grenzt sich der Autor von Versuchen ab, die in den veröffentlichten Marxschen Schriften die einzig richtige Krisentheorie finden sollten. Er will nicht aus der mehr oder minder fertigen Kritik der politischen Ökonomie eine marxistische Erklärung der Krisen und ihrer Wirkungen ableiten. Umgekehrt sieht er die Gestalt des Marxschen Projektes entscheidend durch die Studien zu den Wirtschaftskrisen von 1847, 1857 und 1866 bestimmt. Im Buch werden Elemente einer kritischen Krisentheorie vorgestellt, die nicht nur als Interpretation der Marxschen Schriften, sondern sachlich zu prüfen sind.
Die zentrale These seiner Arbeit hat Timm Graßman zum Buchtitel erhoben: Bei Marx gebe es sehr wohl eine „kohärente Definition“ der Krise. Die Krise sei „als der Eklat aller Widersprüche der bürgerlichen Produktion“ zu bestimmen. (9) Offensichtlich sieht der Verfasser jedoch die Schwierigkeit, dass nicht alle LeserInnen mit diesem knappen Wortlaut eine genaue Bestimmung oder auch nur Vorstellung verbinden können. Er ergänzt zunächst eine kurze Erläuterung der Wortgeschichte: „Das französische Verb éclater hat den dreifachen Gehalt von sich gewaltsam teilen, sich manifestieren und glänzen/strahlen/aufleuchten.“ (10) Eine nähere Bestimmung des Widerspruchsbegriffes versucht er nicht. Nach einer Schilderung verschiedener Aspekte von Krisen, die mit der Definition getroffen werden sollen, gibt er folgende zusammenfassende Beschreibung: „Bei der Krise … handelt es sich um eine ‚normale‘, häufig nicht sehr lange Phase des Zyklus, in welcher die kapitalistische Produktion temporär stillsteht und in ihrem Fortbestand ernsthaft gefährdet ist.“ (13)
Der Aufbau des Buches ist im Wesentlichen chronologisch. Kapitel 1 verfolgt die Diskussion von Konjunkturschwankungen und den Streit über die Möglichkeit von Überproduktion in der politischen Ökonomie vor Marx (Malthus, Say, Sismondi) und einige krisentheoretischen Aspekte der Kontroverse um das currency principle und den Peelschen Bank act von 1844. Danach thematisiert Kapitel 2 die frühen Überlegungen von Marx (und Engels) zum Krisenproblem. Fast beiläufig verkündet Graßmann dabei eine inhaltliche Festlegung: Anders als für Engels habe für Marx „das Privateigentum als ein (juristischer) Ausdruck der Klassengesellschaft“ gegolten, „schon in der Misère de la philosophie spielte dieser Begriff keine analytische Rolle mehr für ihn.“(133) Eine weitgehende Behauptung, die mit dem Wortlaut nicht nur des Manifestes der Kommunistischen Partei schwer zu vereinbaren ist und deren Konsequenzen nachzugehen sein wird. Der Schwerpunkt des Kapitels liegt auf der aktuellen Kommentierung der Krise von 1847 und ihrer retrospektiven Analyse durch Marx nach der Ankunft in London.
Bei der Diskussion von Marx’ Schriften der 1850er Jahre setzt Kapitel 3 mehrere besondere Akzente. Als Ausgangspunkt der Prosperität der 1850er Jahre sieht Graßmann die Goldfunde in Kalifornien. In der Behandlung des 18. Brumaire betont er die sozialen und politischen Effekte einer „Verselbständigung des Krisenbewusstseins“ (222), die erst die Etablierung der Diktatur des kleinen Napoleons ermöglicht habe. Sodann gibt der Autor eine Darstellung des Zusammenhangs zwischen der aktuellen Krisenwahrnehmung durch Marx 1857/58 und der Entstehung der Grundrisse und dem vorläufigen Abschluss seiner wert- und geldtheoretischen Studien in Zur Kritik.
Im vierten Kapitel entfaltet der Autor seine Interpretation der Marxschen Krisentheorie im unvollendeten Hauptwerk. Dabei diskutiert er zunächst Marx Kritik des Sayschen Gesetzes, wonach jedes Angebot sich eine Nachfrage schafft. Das „berüchtigte“ (Graßmann) Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate diskutiert er nicht in der Sache, sondern will es nur als Ausdruck von durch das Kapital selbst gesetzten Schranken der Produktion verstanden wissen. Erst in der Thematisierung des Kredits sieht Graßmann einen Zugang zur wirklichen Begründung der Krisenhaftigkeit des Kapitalismus: Weil der Kredit „die Schranken des Verwertungsprozesses temporär überbrückt“, fasse er „die Überproduktion zu einer eigenen Phase zusammen.“ (386) In den Bewegungen des verleihbaren Kapitals sieht der Autor die Determinante des Konjunkturverlaufs.
Kapitel 5 kehrt zur chronologischen Darstellung zurück. Es behandelt Marx Betrachtung der wirtschaftlichen Entwicklung anhand der „cotton famine“ der englischen Baumwollindustrie während des US-amerikanischen Bürgerkrieges, die internationalen Verwicklungen bis nach Indien als Vorgeschichte der Finanzkrise 1866, die Krise selbst und ihre Nachwirkungen. Wie in den anderen Kapiteln schließt der Autor gern an Marxsche Polemiken an, hier insbesondere gegen die Schwindler des Börsenspiels.
In der Zusammenfassung wiederholt Timm Graßmann seine eingangs formulierte Bestimmung der Krisen in erweiterter Form: „Eine Krise liegt dann vor, wenn plötzlich und unvermittelt das Kredit- ins Monetarsystem umschlägt, der Widerspruch zwischen dem Geld als Recheneinheit und Zahlungsmittel eklatiert, das Geld als absolute Form des bürgerlichen Reichtums hervortritt, der Arbeits- und Produktionsprozess gewaltsam unterbrochen wird und die weitere Existenz der gesamten Gesellschaft ernsthaft infrage stellt.“(507) Damit hat sich für ihn offenbar der Kreis geschlossen.
Für die LeserInnen ist es so einfach nicht. Denn was heißt „Stillstand“ oder „Unterbrechung“ der kapitalistischen Produktion? Gearbeitet und produziert wird immer, auch in der tiefsten Krise. Im XIX. Jahrhundert zeichneten sich Krisen vor allem durch einen Preisverfall aus, durch eine Zunahme von Bankrotten und höhere Arbeitslosigkeit. Der Umfang der „realen“, der preisveränderungsbereinigten Produktion ging nicht immer zurück. Wenn aber „Stillstand“ gar keinen Produktionsstillstand, sondern nur eine Unterbrechung der Akkumulation, der „Verwandlung von Mehrwert in Kapital“ (MEGA II/5, 469; MEW 23/605) bedeutet, dann ist nicht einzusehen, warum damit die Existenz der Gesellschaft, ja auch nur der Fortbestand des Kapitalismus gefährdet sein sollte. Die Reproduktion des Kapitalverhältnisses ist auch bei einfacher Reproduktion (MEGA II/5, 468 MEW 23/604), ja so sogar bei einem zeitweiligen, auch einem längeren echten Rückgang der Gesamtproduktion möglich. Und ob partielle Produktionsrückgänge gesamtgesellschaftliche Folgen haben, das ist nur unter Berücksichtigung der Reproduktion des gesellschaftlichen Gesamtkapitals (MEW 24, 351ff) sachlich zu behandeln. Aber dieser Abschnitt und die später viel diskutierten Reproduktionsschemata finden im Buch keine Erwähnung.
Dass Timm Graßmann im Kredit die entscheidende Ebene der Krisenanalyse ausmacht, ergibt sich nicht aus seinem Gegenstand, sondern aus seinem Zugang zu den Quellen. Marx hatte einfach keine Statistiken über die industrielle oder landwirtschaftliche Produktion, über Investitionen, die Lohnentwicklung oder die Arbeitslosigkeit zur Verfügung. Marx musste sich aus einzelnen Beschreibungen, Außenhandelsdaten und vor allem Preisangaben ein Bild der Produktion bauen. Inzwischen hat sich die Lage sehr gebessert, doch Arbeiten wie Dean/Cole (1968) oder Mitchell (1988) werden von Graßmann nicht herangezogen. Eric Hobsbawms, auf die gründliche britische Forschung zur industriellen und gesamtwirtschaftlichen Entwicklung gestützte Arbeit „Industrie und Empire“ (1968) findet sich im Literaturverzeichnis, wird jedoch nicht verwendet. Von John H. Clapham wird seine Geschichte der Bank von England zitiert, aber die umfangreiche Wirtschaftsgeschichte des modernen Großbritannien – Hobsbawm: „wichtig als Nachschlagewerk“ – bleibt ungenutzt.
Marxisten in der Arbeiterbewegung haben traditionell ein großes Interesse an der Entwicklung von Produktion, Technik und Arbeitsmarkt gezeigt. Leider konzentriert sich Grassmann hier eher auf (einige) Theoretiker, aber nicht auf die Empiriker. Er zieht aus diesem Kreis nur Fred Oelßner (1949) heran, zu dessen Diskussion der Gründerkrise Hans Mottek einmal knapp kommentierte, dass sie die „Produktionsbewegung im Vergleich zu den anderen, mehr in die Augen springenden Krisensymptomen etwas vernachlässigt“ (Mottek 1966, 51). Tatsächlich handelt es sich bei Oelßners Buch um eine sehr verkürzte und einseitige Ausbeute des damaligen breiten sowjetischen Forschungsstandes (vgl. Varga u.a. 1937, Trachtenberg 1939, Mendelson 1959). Zwar liefert die Wirtschaftsgeschichte sicher viel mehr gleichzeitige Fragen, als vor allem verbale Argumentationen noch auflösen können, wie Hans Motteks Buch „Die Krisen und die Entwicklung des Kapitalismus“ (1982) deutlich zeigt.2 Aber eine Theorie, die das Material der Wirtschaftsgeschichte nicht aufnimmt, bleibt leer. Und jede Theorie, die das Material nur selektiv aufnimmt, geht in die Irre: Eine Debatte der Zahlungsbilanz des Vereinigten Königreichs ohne Berücksichtigung der Schifffahrt und der Erträge der Auslandsinvestitionen ist nicht aussagekräftig (Imlah 1958, 70ff).
Selbstverständlich war die Quellenlage für die Londoner Finanzmärkte von Anfang an viel besser: Kursnotierungen in den Zeitungen, die beginnende Berichterstattung über Bilanzen, die Berichte der Parlamentsausschüsse zu den Krisen 1847, 1857 und 1866. Aber sein Bild der Krisen vor allem unter Betrachtung dieser leichter zugänglichen Angaben zu bauen – das erinnert an den alten Witz über einen Säufer, der seine Brieftasche unter der Laterne sucht, „weil es dort hell ist.“
Timm Graßmann wendet sich den Finanzmärkten ausführlich zu. Leider verletzt er dabei in eklatanter Weise die alte Interpretationsregel Spinozas, wonach nur aus dem Text selbst und dem Sprachgebrauch gefolgert werden soll.3 So zitiert er an einer Stelle Sismondi mit einer Bemerkung, dass der Kredit keinen Reichtum schafft – „Im allgemeinen verschiebt der Kredit den Reichtum lediglich von einer Stelle auf eine andere.“ (1827/1975, 70) – ersetzt aber den Punkt am Satzende durch ein Komma und ergänzt freihändig „sowohl im Raum als in der Zeit“(51), weil er seiner Auffassung vom zeitlichen Hinausschieben von Zahlungsverpflichtungen durch den Kredit einen Kronzeugen verschaffen will. Aber das Aufschieben der Zahlungsverpflichtung gilt nur für den einzelnen Kreditnehmer, nicht gesamtwirtschaftlich. Genau um die gesamtwirtschaftliche Betrachtung aber ging es Sismondi im Zitat. Sismondi wusste, dass das Privateigentum nicht einfach eine juristische Form ist, sondern harte ökonomische Realität, die das Gesamtsystem prägt.
Zum Beispiel muss kein Privateigentümer einem anderen Kredit gewähren. In der Prosperität ist die Kreditgewährung leichter, weil die Zuversicht auf eine pünktliche Rückzahlung groß ist. Beim Herannahen einer Krise aber schränkten auch Londoner Banken ihre Kreditvergabe ein: Lieber liquide Mittel ohne Erträge anhäufen, als aufgrund mangelnder Rückflüsse zur Zahlungsunfähigkeit gezwungen zu werden. David B. Chapman von der Firma Overend, Gurney & Co. beschrieb im Juli 1857 – vor der Krise im Herbst des gleichen Jahres – die Haltung der Finanzkapitalisten in einem solchen Falle: „Wir wollen lieber gar keine Zinsen haben, als im Zweifel sein, ob wir das Geld bekommen können, falls wir es brauchen.“4 Kurz nach der Geldkrise erläuterte im März 1858 sein Kollege David Salomons, Direktor der London und Westminster Bank, das Vorgehen seiner Bank in der Krise: Den Kunden mit einem Konto bei der Bank habe man weiter Kredite gewährt, aber das Diskontieren von neuen Wechseln eingeschränkt und eine größere Reserve gehalten – so war die Bank „vorbereitet“.5 Das ist das Umschlagen des „Kreditsystems in das Monetarsystem“ (MEGA II/2, 208, MEW 13, 123). Auf der einen Seite wird die Lage für die Unternehmen verschärft, die auf neue Kredite angewiesen sind. Auf der anderen ermöglichen die Liquiditätsreserven anderen Unternehmen, angesichts säumiger Schuldner und bei eigenen Verlusten zahlungsfähig zu bleiben. Die kapitalistischen Finanzbeziehungen sind keine Kette von Dominosteinen.
Wenn in der Krise andere Banken ihre Kreditvergabe zurückfuhren, wandten sich mehr Unternehmer an die Bank von England (BoE), um ihren Wechselbestand in Geld zu verwandeln. Dann konnte die BoE den Diskontsatz bestimmen. Doch eine zu lockere Geschäftspolitik hatte 1839 dazu geführt, dass die Bank zur Aufrechterhaltung der Konvertibilität ihrer Banknoten in Gold auf Hilfe aus dem Ausland, aus Frankreich und Hamburg, angewiesen war (Andreades 1909, Chap. III). Der Peelsche Bank act von 1844 reagierte auf diese Peinlichkeit. Er zwang der Bank das Halten einer höheren Goldreserve auf: Privatwirtschaftlich bedeutet eine große Geldreserve eine große, nicht ertragbringende Anlage (Hankey 1873, Bagehot 1915). Über fast drei Jahrzehnte zog sich der Streit zwischen den Anhängern des Bank act, des Currency principle, einerseits, ihrer Kritiker aus der Banking school andererseits. Die Banking school zerlegte die preistheoretischen Thesen des Currency principle gekonnt; Marx schätzte sie deshalb sehr. Aber wie häufig in einem Konflikt wurde über den lauten Streit der Parteien die gemeinsame Grundlage übersehen. Beide Seiten gingen selbstverständlich von der Konvertibilität der Banknoten in Gold aus. Und die Banking school bot keinen Vorschlag, wie diese zu sichern sei (Nicolaas G. Pierson in Palgrave u.a. 1910, 250ff). Mit dem praktischen Erfolg in dieser Frage – erst 1890 in der Baring-Krise sollte die BoE wieder auf ausländische Hilfe beim Erhalt der Konvertibilität angewiesen sein – war die Autorität des Currency principle gesichert.6
Im Manuskript von 1861-63 schrieb Marx beiläufig „die reale Crisis kann nur aus der realen Bewegung der capitalistischen Production, Concurrenz und Credit, dargestellt werden“ (MEGA II/3, 1133, MEW 26.2, 513). Produktion – Konkurrenz – Kredit: In jedem dieser Bereiche ist die grundlegende Struktur durch das Privateigentum gegeben. Wert, Privatproduktion, die Ware Arbeitskraft – der Begriff des Privateigentums ist bei Marx wesentlich. Die Konsequenzen dieser Tatsache für den Aufbau seiner Theorie und seine politischen Vorschläge warfen mehr Probleme auf, als er beantworten konnte: Der „Schein der Konkurrenz“ ist real, nicht nur für Kapitalisten. Marx schreibt von einer „komplizierten Arbeit“, „die Äußerung einer Arbeitskraft, worin höhere Bildungskosten eingehen“: „Ist der Wert dieser Kraft höher, so äußert sie sich daher auch in höherer Arbeit und vergegenständlicht sich daher, in denselben Zeiträumen, in verhältnismäßig höheren Werten.“ (MEGA II/5, 146f; MEW 23, 211f). In der folgenden Fußnote weist Marx sofort auf Illusionen über den Unterschied von „skilled“ und „unskilled labour“ hin. Doch er stellt die Regel nicht in Frage, dass teuer qualifizierte Arbeitskräfte auch mehr Wert produzieren. Warum? Es gibt sehr gut bezahlte Arbeitskräfte mit sehr teuer erworbenen Qualifikationen, die in keiner Weise produktiver sind. Zur Konkurrenz unter den Kapitalisten gehört die Frage nach der Herausbildung einer Durchschnittsprofitrate und damit nach dem Verhältnis von Werten und Produktionspreisen. Der historische und der internationale Vergleich von wirtschaftlichen Größen ist nicht trivial. Eine empirisch gehaltvolle Theorie kapitalistischer Entwicklung, die die Ergebnisse der Wachstumstheorien aufnehmen kann, ist auf solche Vergleiche angewiesen. Eine Diskussion dazu gibt es, doch eher im englischsprachigen Raum (Shaikh 2016).
In einem Beitrag zu den Überlegungen von Marx und Engels über Lange Wellen der Konjunktur bemerkte Thomas Kuczynski 1985: „Eine Untersuchung der Veröffentlichungen über Lange Wellen zeigt, dass das Thema selbst in langen Wellen auftaucht. Wir können feststellen, dass ein Abschwung der Realwirtschaft einen Aufschwung der Diskussion bewirkt, während in einem Aufschwung die Diskussion zurückgeht. Angesichts der Länge dieses Zyklus haben wenige Ökonomen an zwei aufeinanderfolgen Aufschwüngen der Debatte teilgenommen, so dass viel Wissen aus früheren Forschungen verloren geht.“ (Kuczynski 1987, 35) Die Debatten nach der Weltwirtschaftskrise 2008/2009 haben diese Beobachtung bestätigt. In der Depression war ein Aufschwung von Krisendiskussionen zu beobachten, in denen durchaus das Rad „zum zweiten, dritten oder vierten Mal“ erfunden wurde (ebenda).
Selbstverständlich muss jede Generation von WissenschaftlerInnen sich den Forschungsstand neu erschließen. Doch das Problem liegt tiefer. Denn unter „Wissen“ ist nicht nur die Kenntnis von Fakten und Zusammenhängen, sondern auch die Identifikation von wesentlichen Problemen zu verstehen. Die klare Formulierung eines Problems ist auch dann ein Fortschritt, wenn eine Lösung nicht in Sicht ist. Allerdings scheinen Lösungen haltbarer zu sein. Sie werden leichter überliefert und können prinzipiell in Prüfungen abgefragt werden – wenn die Autoritäten daran Interesse haben. Ungelöste Probleme sind dagegen eine Herausforderung, wenn nicht ein Ärgernis. Immer wieder reproduziert sich der Hang, reinen Tisch zu machen, alte Schwierigkeiten summarisch abzufertigen und ganz neu anzufangen.
Es ist nicht ohne Ironie, dass gerade ein historiographisches Großprojekt wie die Marx-Engels-Gesamtausgabe eine solche unhistorische Reaktion befördert hat. Einerseits realisiert die MEGA eine akribische Erforschung der Texte von Marx und Engels und ermöglicht so eine neue Lektüre ihrer Werke. Insoweit wird die Vergangenheit im Projekt sehr ernst genommen. Andererseits verbinden Teile der Marxforschung mit der MEGA die Verheißung, nach 150 Jahren heftiger Debatten über nicht nur marxistische Wirtschaftstheorien und Politik in einen Stand der Unschuld zurückzukehren, zum „wahren“ Marx und seinem unvollendeten Werk, ohne die Irrtümer und Verfälschungen der Gegner wie der Epigonen. Aber nicht alle offenen Probleme sind auf eine Abweichung vom ursprünglich richtigen Forschungsprogramm zurückzuführen. Brecht fragte einst ironisch: „Könnten wir nicht im Interesse der Propaganda eine Liste der Fragen aufstellen, die uns ganz ungelöst erscheinen?“ Sicher ist eine akademische Qualifikationsarbeit für eine solche Liste nicht ganz der richtige Platz. Doch es wäre nicht nur im Interesse der Propaganda.
2 Die Konstruktionen der Theoretiker müssen der zuweilen komplexen Struktur der Probleme gewachsen sein. Marx war an der Diskussion des Profitratenfalls immer wieder gescheitert (Gerhardt 2005).
3 „ex solo linguae usu erit investigandus, vel ex ratiocinio, quod nullum aliud fundamentum agnoscit, quam Scripturam.“ (Spinoza, Theologisch-Politischer Traktat, C VII, vgl. MEGA IV/1, 241).
4 Aussage vom 21.7.1857 in: Report from the Select Committee on Bank acts. London 30th July 1857, Minutes of Evidence, q. 5195, p. 489. Zitiert von Marx (MEGA II/15, 530; MEW 25/552).
5 Aussage vom 19.3.1858 in: Report from the Select Committee on Bank acts. London 1th July 1858, Minutes of Evidence, q. 1146, p. 71.
6 Im Rahmen der postkeynesianischen Theorie hat die Vorstellung einer Kreditschöpfung aus dem Nichts wieder ein breites Publikum gefunden. So breit, dass selbst die Bank of England auf den Zug aufspringen wollte (Jakab/Kumhof 2019). Doch auch moderne Zahlungssysteme machen aus vielen Banken nicht eine Bank, sie sind als Netzwerke privater Finanzinstitute aufgebaut, die ihre je eigenen Interessen verfolgen, einander Konkurrenz machen und gegen den Bankrott anderer nicht immer etwas einzuwenden haben. Es sind gerade die Geldkrisen, die das zeigen (Gerhardt 2010).
Literatur
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