Angesichts von fake news, einer neuen Wissenschaftsfeindlichkeit und einem offenen und militanten Irrationalismus in der öffentlichen Auseinandersetzung macht sich eine Sehnsucht nach alten Wahrheiten breit, nach schon einmal allgemein anerkannten Einsichten, die scheinbar vortrefflich zur aktuellen Lage passen. Weit oben auf dieser Liste stehen einige Sätze des Philosophen Immanuel Kant aus dem Jahr 1783:
„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“
Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?
Leider geht in diesem Bezug auf einen klugen Menschen etwas verschütt: Es gibt nicht nur eine selbstverschuldete, es gibt auch eine aufgezwungene Unmündigkeit. Kritik üben heißt unterscheiden. Wenn es um die „Entschließung“ und den „Mut“ geht, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, dann macht es einen Unterschied, ob man mehr oder weniger Mut aufbringen muss. Manchmal müssen Leute mehr Mut aufbringen. Etwa dann, wenn sie nicht genug Eigentum haben, um wirtschaftlich selbständig zu sein, und wenn es dann darum geht, nicht „die“ Gesellschaft, die Klimakatastrophe oder „uns alle“, sondern den eigenen Chef und die eigenen Arbeitsbedingungen zu kritisieren.
Der Philosoph aus Königsberg war gründlich genug, auch das in den Blick zu nehmen. Bei ihm fällt das aber unter den „Privatgebrauch“ des Verstandes:
„Den Privatgebrauch nenne ich denjenigen, den er in einem gewissen ihm anvertrauten bürgerlichen Posten oder Amte von seiner Vernunft machen darf. Nun ist zu manchen Geschäften, die in das Interesse des gemeinen Wesens laufen, ein gewisser Mechanism notwendig, vermittelst dessen einige Glieder des gemeinen Wesens sich bloß passiv verhalten müssen, um durch eine künstliche Einhelligkeit von der Regierung zu öffentlichen Zwecken gerichtet oder wenigstens von der Zerstörung dieser Zwecke abgehalten zu werden. Hier ist es nun freilich nicht erlaubt zu räsonnieren; sondern man muss gehorchen.“
https://korpora.zim.uni-duisburg-essen.de/kant/aa08/037.html
Gegen dieses Gehorchen hatte Kant – auch wenn er prinzipielle Grenzen des Gehorchens im allgemeinen Sittengesetz ausgemacht hat – nichts einzuwenden. Ihm ging es in einer Zeit obligatorischer Religionsausübung und kaum kontrollierter staatlicher Verwaltung um die Verteidigung des öffentlichen Gebrauch des Verstandes – oder der Vernunft, beides wird in diesem Text von Kant nicht unterschieden. Ihm ging es um die Freiheit des Gelehrten, „vor dem ganzen Publikum der Leserwelt“ sich im Allgemeinen zu äußern. Erst nachdem unter dem Schutz eines aufgeklärten Monarchen, der „ein wohldiszipliniertes zahlreiches Heer zum Bürgen der öffentlichen Ruhe zur Hand hat“, im Volk sich irgendwann „Hang und Beruf zum freien Denken“ hinreichend entwickelt haben, erst dann sah Kant auch das nächste Thema aufscheinen, die „Freiheit zu handeln“ für alle.
Kant hatte nichts gegen die Handlungsfreiheit. Die Frage ist nur, ob seine Stufentheorie der Freiheit realistisch ist.
Der Deutsche Bundestag steht ganz in der Tradition Kants. Seit 2017 heißt es im neuen § 611a „Arbeitsvertrag“ des Bürgerlichen Gesetzbuches knapp und deutlich:
„Durch den Arbeitsvertrag wird der Arbeitnehmer im Dienste eines anderen zur Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet. Das Weisungsrecht kann Inhalt, Durchführung, Zeit und Ort der Tätigkeit betreffen. Weisungsgebunden ist, wer nicht im Wesentlichen frei seine Tätigkeit gestalten und seine Arbeitszeit bestimmen kann. Der Grad der persönlichen Abhängigkeit hängt dabei auch von der Eigenart der jeweiligen Tätigkeit ab.“ (https://www.gesetze-im-internet.de/bgb/__611a.html)
Und selbstverständlich sahen und sehen die Abgeordneten in solcher Fremdbestimmung und Abhängigkeit keinen Gegensatz zur öffentlichen Freiheit, die sie jederzeit verteidigen würden. In diesem Sinne leben wir in diesem Lande durchaus in einem aufgeklärten Zeitalter. Vorschriften über Religion und die – nichtkriminelle – Lebensweise nach Feierabend werden den Einzelnen ja nicht gemacht. Die Pluralität von Lebensformen und die damit gewachsenen Wahlmöglichkeiten sind kein Privileg liberaler Eliten, sondern auch bei den schlecht ausgebildeten Teilen der arbeitenden Klasse angekommen.
Doch die Abgeordneten des Bundestages wie die Autorinnen und Autoren in den großen Medien und wie auch Kant, der professionelle Gelehrte, unterschätzen deutlich den Aufwand, der für das „Räsonieren“ und den öffentlichen Gebrauch des Verstandes zu betreiben ist. Und sie unterschätzen die Widerstände, die sich aus der realexistierenden Ohnmacht angesichts der Abhängigkeit der eigenen Lebensführung von den Entscheidungen der wirtschaftlich Mächtigen ergeben. Beides befördert eine Unmündigkeit, die sich auch in Wahlergebnissen niederschlägt und der mit Aufklärung allein nicht beizukommen sein wird. Es ist ein liberaler Mythos, dass jede Unmündigkeit selbstverschuldet wäre. Denn es reicht nicht, dass die Einzelnen öfter mutiger sind und sich selbst ändern wollen: Im Kräfteverhältnis dieser Gesellschaft muss sich materiell etwas ändern.
Eine Intervention, eine Positionierung gegen Chefs, gegen Leute, die Macht haben, ist ein Risiko. Und die Leute wägen ab, ob es sich lohnt. Manchmal übertreiben sie Schwierigkeiten, um sich leichter rauszuhalten. Manchmal ignorieren sie Gefahren, und erschrecken, wenn sie nicht mehr zurück können. Auf das Ansinnen, gemeinsame Forderungen zu unterstützen, antwortete jüngst eine Kollegin wie folgt: „Ich finde es toll, dass ihr euch für bessere Arbeitsbedingungen einsetzt und stimme euren Argumenten und Forderungen in dem Papier zu. Dennoch habe ich mich entschieden, dass ich nicht unterschreiben möchte.“
Aufklärung ist das eine. Handeln und Organisierung von Leuten ist manchmal damit verbunden, aber doch etwas sehr anderes. Wie überhaupt Denken und Handeln wohl zusammenhängen, aber nicht identisch sind.
Vom alten chinesischem Militaristen Sun Zi stammt die Bemerkung:
„Wenn Du sowohl den Feind als auch dich selbst kennst, kannst Du ohne Gefahr hundert Kämpfe ausfechten. Wenn Du nicht den Feind und nur dich selbst kennst, kannst du siegen oder geschlagen werden. Wenn du sowohl den Feind als auch dich selbst nicht kennst, wirst du in jedem Kampf eine Niederlage erleiden.“ (Sun Zi, Über die Kriegskunst, Verlag Volkschina Beijing 1994, S. 32)
Daran anknüpfend habe ich vor einigen Jahren etwas geschrieben, was ich immer noch für richtig halte:
Theoretische Analysen haben eine Funktion in sozialen Auseinandersetzungen. Sie geben – wenn sie denn stimmen – Einsicht in Kräfteverhältnisse und erschließen Gründe für das Verhalten von Leuten, auch ihnen selbst. Sie lassen durchaus die eine oder andere Verallgemeinerung zu. Von Marx stammt die knappe Formulierung in der Gründungsadresse der Internationalen-Arbeiter-Assoziation, daß die Anzahl von Leuten nur ins Gewicht fällt, „wenn Kombination sie vereint und Kenntnis sie leitet“. Der eine Teil des Satzes ist klar: Tatsächlich fallen heute die Interessen von 70.000 Fondsanlegern mehr ins Gewicht als die Interessen von 150.000 Beschäftigten des Landes Berlin, als die Lebensinteressen der Bevölkerungsmehrheit, die einen öffentlichen Dienst braucht, schon weil sie kein ausreichendes privates Vermögen besitzt. Weniger klar ist nach Jahrzehnten nicht nur kommunistischer Avantgardepolitik, was unter der angesprochenen „Kenntnis“ zu verstehen ist. Dabei hatte sich schon der Weise Sun Zi ganz eindeutig geäußert: Ohne Selbsterkenntnis, die kein Theoretiker von außen in die Bewegung hinein tragen kann, ist ein Erfolg nicht nur unwahrscheinlich, sondern unmöglich. (Wenn Du Dich selbst nicht kennst …)
Und damit sind wir bei den realen Kräfteverhältnissen. Wenn sich die Leute vor allem in Situationen erleben, in denen sie den Konflikten ausweichen, weil es keine Aussicht auf Erfolg gibt, und dazu gibt es säckeweise die passenden Sprüche – „Schuster, bleib bei Deinen Leisten!“ – dann sinkt auch das Interesse an einer elaborierten Kritik der Verhältnisse: Warum mühsam eine Realität erklären, wenn es einfach nix ändert? Wenn man zwar von Gewerkschaften gehört hat, sie aber einfach nicht weiterhelfen? Und die Bildung von Organisationen für gemeinsame Ziele bedeutet noch lange nicht, dass diese Ziele auch erreicht werden und dabei die Gemeinsamkeit erhalten bleibt.
Schließlich ist jede Erkenntnis Arbeit. Also auch anstrengend, ohne ein paar dazu gehörige Ressourcen – nicht nur die richtigen Bücher, vor allem Zeit! – nicht wirklich effektiv hinzukriegen. Und wie jede Arbeit etwas, dass man erstmal lernen muss. Sozialistischer Realismus als politische Haltung muss die Schwierigkeiten von Befreiung in der Theorie und in der Praxis ernst nehmen.
Die Einzelnen sollen öfter mutiger sein und sich selbst ändern wollen – möglichst unter Gebrauch ihres Verstandes wie ihrer Vernunft. Jede/r von uns. Es macht einen Unterschied. Ich bin nicht dafür, die Aufklärung zu unterlassen. Aber es reicht nicht. Denn es gibt eine aufgezwungene Unmündigkeit, der mit Aufklärung allein nicht beizukommen sein wird.