Die wohnungspolitische Coronakrise
Erstveröffentlichung: Graswurzelrevolution 460, Sommer 2021.
Der erste Tag des ersten Lockdowns vor einem Jahr hat die Wohnungsfrage für alle auf die persönliche Tagesordnung gesetzt. Denn wie groß sind die Wohnungen, in die wir uns zurückziehen sollen? Mit wie vielen Leuten teilen wir sie – oder nicht? Wie hell oder wie dunkel sind sie? Wie ausgestattet? Mit Balkon? Wie gelegen? Wie laut ist die Straße vor der Tür? Doch eine öffentliche Diskussion der sehr verschiedenen Antworten auf diese Fragen – die Krise trifft alle, aber nicht alle gleichermaßen – eine solche politische Diskussion blieb aus. Während Anzahl und Herkunft der zulässigen Besucher*innen staatlich reguliert und medial erörtert wurden, blieben schnöde Fragen nach der Wohnfläche pro Kopf außen vor. Gerade in der Wohnungsfrage zeigt sich: Ein Großteil der Arbeit zur Bewältigung der Pandemie findet unsichtbar statt, im privaten Rahmen und vereinzelt. Über die Bedingungen dieser Arbeit wird wenig geredet. Und die Wohnungsfrage ist zunächst einmal die privateste Frage überhaupt: Es geht darum, welche Tür man hinter sich zumachen kann, um für sich sein zu können. Doch auch dieses Private ist politisch.
Der Bundespolitik war wohl bewusst, dass die Eindämmung der Krise auch in den Wohnungsmarkt eingreifen muss. Für ein Vierteljahr wurde ein außerordentlicher Kündigungsschutz gewährt. Wichtiger aber war die Ausweitung der Kurzarbeit. Im April 2020 erhielten fast 6 Millionen Beschäftigte Kurzarbeitergeld, bis August sank die Zahl auf 2,5 Millionen. Und diese Leistung der Arbeitslosenversicherung wanderte in vielen Fällen direkt von den Beschäftigten zur Immobilienwirtschaft: die Kosten der Wohnung, insbesondere die Miete stehen weit oben in der Prioritätenliste der Haushalte.
Nach dem ersten Lockdown zog die Wirtschaft rasch wieder an und hielt sich im zweiten Teillockdown insgesamt stabil. Die besonders betroffenen Branchen – Teile des Einzelhandels, Hotels und Gaststättengewerbe, Tourismus, Kultur – bilden nicht den Kern des deutschen Wachstumsmodells. Damit flossen auch die Arbeitseinkommen für die meisten Beschäftigten weiter. Angesichts eingeschränkter Konsummöglichkeiten und großer Zukunftsängste stieg die Sparquote der privaten Haushalte 2020 auf 16 Prozent! Normalerweise sind es hierzulande gut 10 Prozent.
Relativer Krisengewinner
Der GdW Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen vermeldet im Januar 2021 sehr zufrieden: „Bei der Wohnungsvermietung sind bisher coronabedingt keine signifikanten Mietrückstände oder gar ein Rückgang der Wohnungsnachfrage feststellbar.“(1) Die Immobilienbranche konnte trotz der Einbrüche in der Gewerbevermietung eine fast positive Bilanz des Coronajahres ziehen: Während das Bruttoinlandsprodukt um 5 Prozent zurückging, betrug der Rückgang in der Grundstücks- und Wohnungswirtschaft nur 0,5 Prozent. Selbst bei Errichtung, Verkauf und Vermietung von Büroräumen zeigt sich bisher nur ein beschränkter Rückgang. Nicht jede Tätigkeit, noch nicht einmal jede Bürotätigkeit lässt sich ins Home Office überführen. Das Baugewerbe war der einzige Bereich, der 2020 überhaupt ein Wachstum aufwies, wenn auch nur magere 1,4 Prozent.
Eine Einsicht hatte es im letzten Frühjahr bis in alle Massenmedien geschafft und ist durch die zweite Welle nur bestätigt worden: Nicht die Entscheidungen von Wirtschaftsbossen und Chefs aller Art, sondern die tägliche Arbeit der Millionen „kleinen Leute“ hält die Gesellschaft am Leben und zusammen. Und in dieser Arbeit haben die Leute im letzten Jahre viele neue Erfahrungen machen müssen, haben Neues ausprobiert und gelernt. Ohne ihr Wissen geht gar nichts. Aber fertig macht die Arbeit doch, erst recht, wenn zuhause nicht genug Platz ist.
Andere Bereiche der deutschen Wirtschaft müssen auf den Export hoffen, auf direkte staatliche Beihilfen in Milliardenhöhe oder auf einen Erfolg der Impfstrategie, damit die höheren Ersparnisse des Jahres 2020 doch noch den Weg in ihre Geschäfte finden. Die Immobilienwirtschaft wurde indirekt gesponsert. Sie gehört zu den Krisengewinnern, relativ gesehen. Selbstbewusst hat sie auch 2021 nicht vor, auf ihre Vorteile zu verzichten.
Stabilisierung nicht für alle
In der Krise zeigen sich einige der systematischen Löcher im sozialen Netz. Geringfügig Beschäftigte sind nicht in der Arbeitslosenversicherung und erhalten daher kein Kurzarbeitergeld. Der Rückgang der geringfügigen Beschäftigung betrug von März bis November 2020 mehr als 500.000, davon die Hälfte Nebenjobber, die andere Hälfte ausschließlich geringfügig Beschäftigte.(2) In vielen Fällen war ihre Arbeit Teil eines besonderen Familienmodells mit Haupternährer, deren Bedeutung nun wieder wächst.
Menschen in prekärer Selbständigkeit hatten als Unter-nehmer*innen in der Coronakrise eine sehr viel breitere Lobby. Doch die lauthals verkündeten Hilfsprogramme greifen in vielen Fällen nicht. Die vom Bund bereitgestellten Mittel werden nicht abgerufen, weil sie an lebensfremde Bedingungen geknüpft sind. Am Ende bleibt der Verweis auf Hartz IV, um private und Mietschulden zu vermeiden. Denn der Kündigungsschutz hieß ja nicht, dass die Mietforderungen nicht weiter auflaufen. Die Verunsicherung und das gefährdete Selbstbild in diesem Bereich haben einen Beitrag zur aberwitzigen Coronaleugnung geleistet, die erst an der zweiten Welle politisch gescheitert ist. Wie in jedem Umbruch bündeln sich in der Coronakrise auf verwirrende Weise die verschiedensten Konflikte.
Wohnen: Alte Probleme in neuem Licht
Lockdown, Homeschooling, Home Office: Viele neue Herausforderungen der Krise sollten zuhause bewältigt werden. Aber wie viel Platz ist da? Es gibt Leute, die gar keine Wohnung haben, sondern bestenfalls eine Unterkunft. Reden wir nicht von den Grenzen der EU. (Ärzte ohne Grenzen fordert die Evakuierung der Flüchtlingslager auf Lesbos, wo 42.000 Geflüchtete sich nicht vor Infektionen schützen können. Ohne Erfolg.) In den Berliner Gemeinschaftsunterkünften für Geflüchtete waren Ende Februar 2021 18.458 Plätze belegt.(2) Zur Zahl der Obdachlosen gibt es nur Schätzungen. Vor einem Jahr hatte Berlin in der „Nacht der Solidarität“ am 7. Februar 2020 1.976 Obdachlose gezählt, davon 807 auf der Straße, 158 im Öffentlichen Personennahverkehr, 15 in Rettungsstellen, 12 im Polizeigewahrsam, 42 im Wärmeraum Gitschiner Straße und 942 in der Kältehilfe. Diejenigen, die in Kellern oder auf Dächern übernachtet haben oder die irgendwie bei Bekannten untergekommen sind, sind in dieser Auflistung nicht enthalten. Und schließlich gehören nicht nur, aber auch in diesem Land Altenheime zu den Hotspots der Pandemie.
Wohnen ist die bessere Alternative. Doch eine Wohnung „haben“ heißt sehr Verschiedenes. Bundesweit lebt gut die Hälfte aller Leute im selbstgenutzten Eigentum. Hier entfällt auf eine Person eine Wohnfläche von 51 Quadratmetern. Bei den Mieter*innen sieht es anders aus: hier sind es noch 38,5 Quadratmeter pro Person. Erstmals seit Jahrzehnten ist die Wohnfläche pro Kopf in den Mieterhaushalten etwas gesunken. Und dann teilt die amtliche Statistik noch einen Fakt mit: „Bei der Bevölkerung mit Migrationshintergrund standen jedoch je Person rund 13 Quadratmeter weniger Wohnfläche zur Verfügung als bei Personen ohne Migrationshintergrund. Hierbei spielte es keine Rolle, ob diese Personen in Eigentum oder zur Miete wohnen.“(4)
So weit die Statistiken zur Wohnfläche. Dann gibt es die Statistik zur Ausbreitung von COVID-19. Die Berliner Gesundheitsverwaltung hat diese und weitere Angaben kombiniert. In ihrem Fazit heißt es: „Je höher der Anteil der Arbeitslosen bzw. Transferbeziehenden in den Bezirken ist, desto höher ist die COVID-19-Inzidenz. (…) Grundsätzlich ist festzustellen, dass Bezirke, die eine ungünstigere Sozialstruktur aufweisen sowie dichter besiedelt sind und in denen weniger Frei- und Erholungsfläche zur Verfügung steht, signifikant stärker von der COVID-19-Epidemie betroffen sind.“(5)
Jenseits der großen Städte liegen die Probleme anders, sind aber nicht geringer. Die Altersstruktur, das weite Pendeln zur Arbeit auf der einen, die Einschränkungen bei den ohnehin schon schwerer erreichbaren öffentlichen Dienstleistungen auf der anderen Seite tragen dazu bei. Mehrere der stabilen Hotspots der Pandemie liegen in ländlichen Gegenden. Die Analysen dazu stehen noch aus, ein Zufall ist es sicher nicht.
Was tun?
Mieten- und stadtpolitische Initiativen sind von der Krise und ihren Einschränkungen auf doppelte Weise betroffenen. Einerseits mussten sie, wie alle, ihre Arbeitsweise umstellen. Das Berliner Volksbegehren „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ versucht, sein Anliegen mit einer Unterschriftensammlung unter Coronabedingungen durchzusetzen. Anderseits ist der Bedarf an Gesprächen und insbesondere an Sozialberatung massiv gewachsen. Und sozial distanzierte Sozialberatung ist ein Widerspruch in sich. Viele Leute sind sehr fit in digitalen Kommunikationsformen, andere nicht. Lokale Solidaritätsinitiativen hatten es schon im ersten Lockdown schwer. In der winterlichen zweiten Welle war die Ohnmacht und Ermüdung greifbar.
Worin besteht die Ohnmacht und warum sind wir müde? Eine Einsicht hatte es im letzten Frühjahr bis in alle Massenmedien geschafft und ist durch die zweite Welle nur bestätigt worden: Nicht die Entscheidungen von Wirtschaftsbossen und Chefs aller Art, sondern die tägliche Arbeit der Millionen „kleinen Leute“ hält die Gesellschaft am Leben und zusammen. Und in dieser Arbeit haben die Leute im letzten Jahre viele neue Erfahrungen machen müssen, haben Neues ausprobiert und gelernt. Ohne ihr Wissen geht gar nichts. Aber fertig macht die Arbeit doch, erst recht, wenn zuhause nicht genug Platz ist.
Nicht alles Neue hat funktioniert. Nicht alles geht anders, nur wenn man es versucht. Für viele Verbesserungen braucht es bessere Ausgangsbedingungen, die nicht zum Nulltarif zu haben sind. Die Krise trifft alle, aber nicht alle gleichermaßen. Die „kleinen Leute“ leben in kleineren Wohnungen und haben geringere private Reserven. Reale Veränderungen sind nötig. Welche Ressourcen sind vorhanden? Wie können neue Möglichkeiten geschaffen werden?
Es geht jetzt darum, endlich eine menschenfreundliche Infrastruktur zu schaffen: Eine soziale und eine technische Infrastruktur, die den Herausforderungen der aktuellen Krisen dauerhaft gewachsen ist und Entwicklungsmöglichkeiten für alle öffnet. Das wird nur klappen, wenn viele der „kleinen Leute“ sich politisch aufraffen. Ein kritisches Verhalten zum eigenen Alltag ist nicht die schlechteste Lehre aus dem ersten Jahr Corona. Es gibt Umbrüche und nicht alles bleibt so, wie es mal war. Das heißt nicht, dass jede Veränderung zu Verbesserungen führt. Aber es heißt, dass ein Festhalten an alten Gewohnheiten nicht immer hilft: Manchmal ja, manchmal nein.
In den sechziger Jahren schrieb der Politikwissenschaftler Karl W. Deutsch: „Macht hat in einem gewissen Sinne derjenige, der es sich leisten kann, nichts lernen zu müssen.“(6) Er brachte damit ein wichtiges Argument für die Begrenzung von Macht und gegen autoritäre Modelle aller Art auf den Punkt: Leute, die zu viel Macht haben, müssen nichts lernen. (Bis irgendwann der Punkt kommt, an dem ihre Macht zum Machterhalt nicht mehr ausreicht – aber bis dahin geht meist viel kaputt.) Er hat damit aber auch den kleinen Leuten eine Mahnung mitgegeben: So anstrengend Aufklärung, Lernen und Wissenschaft auch sind – und sie sind anstrengend – sie können es sich gar nicht leisten, darauf zu verzichten. Solange sie versuchen, sich nur um die eigene kleine Welt zu kümmern, wird die große Welt mit ihren Umbrüchen alle Lebenspläne durcheinander wirbeln. Sicher ist die Wohnungsfrage zunächst einmal die privateste Frage überhaupt. Aber um sie zu beantworten, braucht es mehr: „Jeder Versuch eines Einzelnen, für sich zu lösen, was alle angeht, muß scheitern.“(7)
Anmerkungen:
(1) GdW Information 161.
(2) Bundesagentur, Arbeitsmarkt kompakt, Januar 2021.
(3) nach Angaben der Betreiber.
(4) Datenreport 2021, 40.
(5) Das SARS-CoV-2-Infektionsgeschehen in Berlin – Zusammenhang mit Soziodemografie und Wohnumfeld, Datenstand der Analyse 28. Oktober 2020.
(6) Karl W. Deutsch: Politische Kybernetik, Freiburg 1969, 171.
(7) Friedrich Dürrenmatt: 21 Punkte zu den Physikern, 1962