Israel: Krieg oder Neuwahlen?

Freunde von der DAAM haben einen aktuellen Kommentar von Yacov ben Efrat auf ihre Seite gestellt. Der Text diskutiert die Forderung nach unverzüglichen Neuwahlen in Israel geradlinig und realistisch, unten folgt die Übersetzung. Da aber Geradlinigkeit und Realismus nicht die besonderen Qualitäten der innerlinken Debatten zum Nahostkonflikt sind, ist eine Vorbemerkung nötig:

Über Selbstverständlichkeiten, die keine sind

In einem langen Gespräch mit einem alten Freund und Genossen diskutierten wir vor einigen Tagen auch den Völkermordvorwurf an Israel. Nicht als Juristen, sondern als Historiker, die sich lange mit dem deutschen Faschismus und den deutschen Verbrechen während des zweiten Weltkriegs beschäftigt haben. Wer die Forschung, wer auch nur die Fakten etwa des Jäger-Berichts zur Kenntnis nimmt, weiß, dass alle, die in der aktuellen Auseinandersetzungen das Wort „Völkermord“ verwenden, für die Verbrechen der deutschen Besatzungsmacht in Osteuropa einen neuen Begriff finden müssten. Unser Freund sagte, dass bei aller möglichen Kritik am israelischen Vorgehen nach dem Angriff der Hamas da selbstverständlich nichts gleichgesetzt werden kann. Womit er Recht hat, es kann nicht gleichgesetzt werden, was so verschieden ist. Aber es soll gleichgesetzt werden. Implizit durch die Verwendung des Wortes „Völkermord“, explizit durch „Vergleich“ genannte Bezugnahmen auf den Holocaust. Das geschieht im Großen durch Staatschefs wie Lula da Silva. Und es geschieht im Kleinen, etwa in einem Beitrag von Hermann Dierkes in der SoZ: „80 Jahre nach dem Ende der Belagerung von Leningrad. Der Vernichtungsfeldzug der israelischen Regierung und Armee in Gaza wirft viele Parallelen auf“.

So unvorsichtig, sich mit einer ausdrücklichen Gleichsetzung erwischen zu lassen, ist Hermann Dierkes nicht. In der Zusammenfassung schreibt er: „Die Vorgehensweise Israels in Gaza wirft historische Parallelen auf. Sie hat – bei aller historischen Unterschiedlichkeit – sehr viele Ähnlichkeiten mit der 900tägigen Belagerung von Leningrad durch die deutsche Wehrmacht: Abriegeln, Zerbomben, Zerstören und Aushungern grosser städtischer Siedlungen und ihrer Bevölkerung.“ – Also geht es nicht um Gleichsetzung, sondern – nur? – um „Ähnlichkeiten“ oder „Parallelen“, und auf eine „historische Unterschiedlichkeit“ hat er ausdrücklich hingewiesen! Aber eine Auflistung der Unterschiede sucht man in seinem Text vergebens. Sie würde die behaupteten „Parallelen“ Lügen strafen.

Hermann Dierkes will Partei ergreifen,  da können Tatsachen nur stören. Im letzten November schrieb er in der SoZ: „Die Kritik der Hamas, deren politische Ausrichtung und Methoden nicht die unseren sind, ist sicher erforderlich, aber sie ist angesichts des Grundkonflikts nachgeordnet. In dem Grundkonflikt zwischen weit überlegener Kolonialmacht und einer unterdrückten Nation bzw. antikolonialer Erhebung kann es kein ”einerseits – andererseits” geben.“ Der selbstmörderische Hang einiger Linker, sich mit allen zu verbünden, die irgendwie gegen „das Kapital“ sind, ist alt. Besonders dann, wenn man die eigenen politischen Hausaufgaben nicht fertig gekriegt hat, fühlt es sich gut an, verbal die Teilnahme an einem weltpolitischen Konflikt zu beschwören. Deshalb ist dieser selbstmörderische Hang etwa so alt wie die organisierte Linke alt ist. Und ebenso lange einer der Gründe dafür, warum sie regelmäßig noch viel älter aussieht. Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer. Ende der Vorbemerkung.

Du bist der Chef, schuldig sind alle.

Von Yacov Ben Efrat

„Du bist der Chef, schuldig bist Du.“ ist ein Plakat, das Netanyahu nachts um den Schlaf bringt. Es ist grob, es trifft und es ist effektiv. Die Leute dahinter sind Veteranen des Jom Kippur Krieges 1973, Menschen in ihren Siebzigern, die um die Seele des Landes kämpfen. Diese Soldaten sind Teil einer breiteren Kampagne von Protestorganisationen, die sofortige Neuwahlen fordern. In ihren Augen ist Netanyahu, der von der Gnade der Extremisten Itamar Ben Gvir und Betzalel Smotrich abhängt, eine existenzielle Gefahr. Er verlängert den Gazakrieg aus politischen Gründen und die Geiseln in Gaza sind ihm egal. Dazu kommen das geplante Wehrdienstgesetz, das die Ultraorthodoxen vom Militärdienst ausnimmt, ein Staatshaushalt, der den Siedlern Vorrang vor den Kriegsopfern gibt, und die ununterbrochenen verbale Angriffe von Regierungsmitgliedern auf zentrale Personen der Sicherheitskräfte. All dies bringt die Protestierenden zum Kochen, die in Bibi den Hauptverantwortlichen für das Desaster des 7. Oktober sehen.

Doch die Forderung nach sofortigen Neuwahlen scheint völlig abgehoben von der politischen Realität, die nach dem Schwarzen Sonnabend entstanden ist. An jenem Tag versagte die rechte Regierung komplett, die Militärführung war in Furcht und Schrecken. Der einzige Weg zur Rettung des Landes war die Bildung eines Kriegskabinetts und die Einbeziehung der Moderaten Benny Gantz und Gadi Eisenkot in die Regierung. Die rechte Regierung hörte auf zu existieren. Der juristische Staatsstreich wurde begraben und Netanyahu kehrte zu seiner natürlichen Position als Ausgleich zwischen der extremen Rechten und der Mitte zurück. Der einzige Weg zu Neuwahlen im Sommer, wie sie die Protestierenden verlangen, wäre die Bildung einer Mehrheit in der Knesset für ein Misstrauensvotum gegen die Regierung. Der erste Schritt zur Bildung einer solchen Mehrheit wäre zweifellos der Austritt von Gantz und Eisenkot aus der Regierung. Dies würde Netanyahus Legitimität tödlich beschädigen, auf der nationalen wie der internationalen Ebene, und der Weg zum Zerfall seiner Koalition würde abgekürzt.

Überraschenderweise demonstrieren die Protestler aber nicht vor den Häusern von Gantz und Eisenkot, um sie zum Rücktritt aufzufordern. Im Gegenteil fordern sie ihren Verbleib im Kriegskabinett. Der Grund dafür ist klar. Ihr Rücktritt könnte zur Auflösung der Knesset und Neuwahlen im Sommer führen, wie gefordert. Doch in diesem Fall blieben Netanyahu, Ben Gvir und Smotrich als Übergangsregierung noch viele Monate im Amt. Solch eine Regierung wäre ein Albtraum für alle: Die Führung der Sicherheitskräfte würde täglich attackiert, die Geiseln aufgegeben, die Rechten würden Amok laufen und Katastrophen aller Art eintreten. Die Position der Protestbewegung ist widersprüchlich. Denn wenn Gantz und Eisenkot nicht zurücktreten, dann haben Bibi und seine Ultraorthodoxen und messianischen Partner keinen Grund, Wahlen auszurufen. Es ist kein Zufall, dass Netanyahu erklärte, Wahlen würden im normalen Turnus erfolgen, in drei Jahren. Die Position der Protestbewegung, dass Gantz und Eisenkot im Amt bleiben sollen, gibt eine weit verbreitete Stimmung wieder. Diese Übereinstimmung wird gerade gebraucht – aber sie ist der Grund, warum die Forderung nach Neuwahlen keinen Boden gewinnt.

Tatsächlich bleibt Gantz nicht nur aus diesem Grund in der Regierung. Es gibt eine breite Übereinstimmung zwischen ihm und Netanyahu über den Charakter des Krieges und seine Ziele. Noch vor kurzem erklärte Gantz, dass „der Krieg fortgesetzt wird, bis alle Ziele erreicht sind“. Das heißt, bis die Hamasadministration und ihre militärischen Fähigkeiten dezimiert sind und alle Geiseln befreit. Wahrscheinlich werden Gantz und Eisenkot in der Netanyahuregierung bleiben, bis eine Vereinbarung mit der Hisbollah im Libanon erreicht ist. Wenn die Vorwürfe der Protestbewegung zutreffen, wonach Netanyahu bewusst den Krieg unbegrenzt verlängert, die Geiseln aufgibt und die Beziehungen zu den USA politischen Interessen opfert, dann wäre jeder weitere Tag von Gantz und Eisenkot in der Regierung nichts weniger als ein politisches Verbrechen.

In allen Stellungnahmen von Gantz kann man bis heute keine grundlegenden Differenzen zwischen ihm und Netanyahu ausmachen. Nicht bezüglich der Notwendigkeit einer Ausweitung des Krieges nach Rafah, der Ablehnung der Bedingungen der Hamas für einen Geiseldeal, schließlich seine Unterstützung der Regierung in ihrer Ablehnung einer einseitigen Anerkennung eines palästinensischen Staates, entgegen der Position der Bidenregierung.

Die Partnerschaft zwischen Gantz und Bibi dauert schon viele Jahre. Obwohl Bibi der Hauptverantwortliche für das Konzept ist, das Monsters der Hamas zu füttern und die Palästinensische Autonomiebehörde verhungern zu lassen, war Gantz als Generalstabschef und Verteidigungsminister in den Regierungen Netanyahu und Bennet voll dabei – voll dabei mit der Strategie, die mit dem 7. Oktober erledigt ist. Gantz Position als amtierender Premier in Netanyahus Regierung war kein Zufall. Die politischen Differenzen zwischen ihm und Netanyahu sind minimal.

Mehr als ein Jahrzehnt beauftragt mit der Sicherheit Israels und beteiligt an dem historischen Fehler, der Israels Gesellschaft in existenzielle Gefahr brachte, trägt Gantz Verantwortung. Heute, als Netanyahus Partner in der Kriegführung, hat Gantz kein alternatives politisches Programm. Seine Position zu einem palästinensischen Staat stimmt mit Netanyahus überein. Er mag es vorziehen, freundlich zu Biden zu sein und „Ja, aber“ statt einfach „Nein“ zu sagen, aber das ändert im Wesentlichen nichts. Gantz ist bereit zu einem Kompromiss mit den Ultraortodoxen um sie auf seine Seite zu ziehen. Er hat keine sozio-ökonomische Alternative zu dem Neoliberalismus, dem Netanyahus seit 20 Jahren folgt und der zur Zerstörung des öffentlichen Dienstes geführt hat.

Deshalb kommen die Forderungen nach Neuwahlen und der Versuch, die Protestbewegung gegen den juristischen Staatsstreich von 2023 zu wiederholen, nicht vom Fleck. Demokratie – der Slogan jenes Protestes, nahm eine unkorrigierbare Gefahr für das politische System Israels auf und mobilisierte so Massen. Einer entscheidenden Mehrheit war klar, dass Demokratie ein übergeordneter Wert ist, der bürgerliche Freiheit ermöglicht. Der Ruf nach Neuwahlen ohne einen politischen Inhalt gleicht einer magischen Lösung, deren ganzes Ziel darin besteht, Netanyahu loszuwerden, ohne eine politische Alternative zu haben.

Vertreter der Protestbewegung behaupten, dass Wahlen auch während des Krieges gegen die Hamas durchgeführt werden könnten: Die Ablösung Netanyahus ist wichtiger als die Niederlage der Hamas. Vielleicht glauben sie, dass mit Netanyahu ein Sieg über die Hamas unmöglich ist – oder dass, entgegen Gantz Behauptungen, die Hamas gar nicht besiegt werden kann. In beiden Fällen können Wahlen nicht das existenzielle Problem der israelischen Gesellschaft lösen. Wenn die Hamas sich durchsetzt, wäre dies ein riesiger Sieg für den Iran und seine Stellvertreter und würde jede Friedensregelung mit den Palästinensern ausschließen. Wenn aber Netanyahu ein Hindernis auf dem Weg zu einem Sieg über die Hamas ist, dann sollten die Proteste den sofortigen Rücktritt von Gantz und Eisenkot fordern.

Es ist schwer zu sagen, wie es weitergeht, nur eins ist sicher: Netanyahu ist erledigt. Wie Eisenkot sagte: „Er muss keine Verantwortung übernehmen – er hat sie mit seinem Amtseid übernommen.“ Offen ist dagegen, wie es mit der Hamas weitergeht, und dies wird die Zukunft der Beziehungen zwischen Israelis und Palästinensern entscheiden. Solange wie diese Frage offen ist, bleibt jeder Versuch einer politischen Alternative zur extremen Rechte rein theoretisch. Der Ruf nach einem palästinensischen Staat und einer Lösung mit Saudi-Arabien, wie Biden es will, oder alternativ ein einheitlicher, gleichberechtigter demokratischer Staat für Israelis und Palästinenser haben keine Perspektive, solange die Hamas der Sprecher der Palästinenser bleibt. Hamas ist nicht nur eine existenzielle Gefahr für Israel. Sie ist eine existenzielle Gefahr für die Palästinenser selbst, so wie der Iran und seine Verbündeten eine existenzielle Gefahr für die ganze Region sind. Die Hamas ist ein Verbündeter des Iran, und das iranische Regime hat das Leben für Millionen seiner Bürger zur Hölle gemacht. Deshalb wird der Krieg in Gaza nicht nur das Schicksal des israelischen Gesellschaft, sondern der Palästinenser und der ganzen Region entscheiden. Wahlen? Ja. Jetzt? Das hängt eher von Gantz und Eisenkot ab, als von den Demonstranten.

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